Pandemie

Jetzt sind die Jugendlichen dran!

Von 
Madeleine Bierlein
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© Getty Images/iStockphoto

„Wir spielen keine Rolle“, sagt Ella (16). „Bis ich mal geimpft bin und ein normales Leben führe, werden noch Monate vergehen“, klagt Emilia (19). „Ich habe seit einem Jahr kein Leben“, schimpft Nick (15). Drei Teenager aus der Region, die in Wirklichkeit andere Namen haben. Und die in der Corona-Krise auf viel verzichtet haben - aus Liebe zu ihren Eltern und Großeltern oder einfach, weil sie keine Möglichkeit hatten, normal weiterzuleben. Doch es ist nicht nur der Verlust an Erlebnissen, der an ihnen nagt. Genauso schlimm wiege das Gefühl, vergessen worden zu sein, sagt Ellas Mutter. In der Prioritätenliste ganz hinten zu stehen.

Das war zu Beginn der Pandemie noch anders. Allein das Wort: Pandemie. Das klang aufregend, man wurde Zeitzeuge eines besonderen, ja eines historischen Erlebnisses. Die Schulen schlossen - etwas, was die eigenen Eltern nie erlebt haben. Endlich nicht mehr früh aufstehen. Kein Hausaufgabenstress. Kein Bulimie-Lernen für die Klassenarbeiten. Dazu das schöne Wetter. Wenn man ein einigermaßen gutes Verhältnis zu den Eltern hatte, ließ sich dieser Zustand aushalten. Eine Weile.

Freunde fehlen

Doch der Kick des Unvermuteten flaute bald ab. Schleichend wurde die vermeintliche Freiheit zur Last. Im PC (so man einen hatte) stapelten sich die pdfs mit Unterrichtsmaterial und Arbeitsaufträgen - mehr oder weniger liebevoll von den Lehrern und Lehrerinnen zusammengestellt. Der direkte Kontakt fehlte, Digitalunterricht war und bleibt bis heute die Ausnahme. Aber wie soll man Stochastik oder Französisch digital und allein begreifen? Dazu die gähnende Langeweile, die sich auch mit der 1000. Runde Minecraft oder Fortnite, mit der x-ten Staffel von Vampire Diaries, Gossip Girls und Prison Break kaum bekämpfen ließ. Ein Leben in Jogginghose, zwischen Bett, PC und Handy.

„Das Schlimmste, was einem Jugendlichen passieren kann, ist, keine Freunde zu haben und sich allein zu fühlen“, schreiben Remo Largo, der im vergangenen Jahr verstorbene Schweizer Kinderarzt und Fürsprecher von Kindern und Jugendlichen, und seine Co-Autorin Monika Czernin in ihrem Buch „Jugendjahre“. Doch genau das wurde den Teenagern zugemutet. Monatelang waren sie von ihren Freunden und Freundinnen getrennt. Keine Schule, kein gemeinsamer Sport, keine Feten, für Schulabgänger keine Abschlusspartys. Kontakt war nur sehr eingeschränkt oder digital möglich.

Diskussion über Impfungen

Pläne für Corona-Impfungen von Kindern und Jugendlichen bis zum Ende der Sommerferien stoßen bundesweit auf Skepsis. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte bezeichnete die Pläne als „überambitioniert“. Die Ständige Impfkommission (Stiko) mahnte zur Geduld, weil Impfungen von Kindern genau geprüft werden sollten.

Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung forderte derweil bereits einen genauen Fahrplan für eine solche Impfaktion.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte am Dienstag bekräftigt, dass bis zum Ende der Sommerferien den 12- bis 18-Jährigen in Deutschland ein Impfangebot gemacht werden soll. Am gleichen Tag hatte die EMA bekanntgegeben, dass sie noch im Mai über die Zulassung des Corona-Impfstoffs der Hersteller Biontech und Pfizer für Kinder ab zwölf Jahren entscheiden will.

„Wir wollen in jedem Fall die Daten zur Impfung von Kindern genau prüfen, bevor eine generelle Impfempfehlung für Kinder gegeben werden kann“, hatte der Stiko-Vorsitzende Thomas Mertens gegenüber der „Welt“ argumentiert. „Derzeit diskutierte Argumente wie Urlaub können nicht die primären entscheidungsrelevanten Argumente der Stiko sein.“ Wenn die Zulassung für Kinder von 12 bis 15 erteilt sei, „dann sollten tatsächlich Kinder mit schweren Vorerkrankungen zuerst geimpft werden“. dpa

 

Hinzu kam die Nähe zu den Eltern, die ihre Teenies im besten Fall „voll stressig“ an die frische Luft trieben - und im schlechteren Fall einfach selbst überfordert waren und sich nicht kümmerten. (Auch der schlechteste Fall - körperliche und seelische Gewalt - kam zunehmend vor.) Normal ist der Dauerkontakt zu den Eltern in diesem Alter nicht - und gesund auch nicht. „Ablösung ist das zentrale Thema der Pubertät“, schreiben Largo und Czernin. In dieser Lebensphase löst sich die starke Bindung des Kindes an seine Eltern, ja sie muss sich lösen, damit der junge Mensch emotional unabhängig und erwachsen werden kann. Dafür gewinnt die Peer-Group an Bedeutung. „In den Cliquen wird vieles gelernt, was in der Familie nicht erworben werden kann, aber für die Stellung in der Gesellschaft wichtig sein wird“, so Largo und Czernin weiter. Bei Partys, auf Konzerten, beim gemeinsamen Abhängen werden Sozialverhalten, Wertvorstellungen und politische Positionen erprobt. Der erste Kuss fällt in diese Zeit. Das erste Sich-Betrinken. Der erste Sex. Für die Generation Corona ist das meiste von all dem ausgefallen.

Ein Drittel zeigt psychische Auffälligkeiten

In einer für die Psyche ohnehin kritischen Lebensphase wiegen die Folgen der Pandemie schwer: Laut Kinder- und Jugend(hilfe)-Monitor 2021 der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe leidet ein Drittel der 11- bis 17-Jährigen Corona-bedingt unter psychischen Auffälligkeiten. Die Unterstützungssysteme sind überlastet, niedergelassene Psychologen und Psychologinnen berichten von enormem Andrang und längst als stabil entlassenen Mädchen und Jungen, die sich mit Selbstmordgedanken tragen.

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Nun könnte man sagen: Durchhalten. Nicht mehr lange. Das Ende der Pandemie ist in Sicht. Ihr schafft das. Das mag so sein. Aber für viele junge Menschen fühlt es sich nicht so an. Im Gegenteil. Sie fühlen sich mehr denn je im Stich gelassen.

„Das Erste, was wieder öffnen wird, sind die Schulen“ - hieß es vor einigen Monaten noch vonseiten der Politik. Es sollte sich als leeres Versprechen erweisen. Während die Wirtschaft weiterproduzierte, mussten Kinder und Jugendliche Mitte Dezember erneut in den Lockdown. Viele sind es bis heute. Und während die - mittlerweile doppelt geimpfte - Großelterngeneration schon wieder munter nach Sylt reist oder in der Schweiz urlaubt, sitzt zum Beispiel die eingangs genannte Studentin Emilia in ihrem Kinderzimmer am Computer statt im Hörsaal. Vorlesungen und Seminare in Präsenz - Fehlanzeige. Erstsemesterpartys, neue Freunde und Freundinnen unter den Mitstudierenden finden -schwierig. In eine WG ziehen - derzeit unvorstellbar. „Wir werden die Letzen sein“, sagt die 19-Jährige. Ihre Stimme klingt resigniert.

Leichtigkeit ging verloren

Dabei sollten wir Älteren uns eines bewusst machen: Die Jugendlichen haben den Lockdown nicht gebraucht. Für sie stellt das Virus kaum eine gesundheitliche Gefahr dar. Zumindest keine, die das aufwiegt, was vielen von ihnen verloren gegangen ist. Ihre Unbeschwertheit, ihre Leichtigkeit.

Vielleicht ist es jetzt endlich an der Zeit, sich zu revanchieren, danke zu sagen für die vielen Monate des Verzichts. Und der Jugend die Chance zu geben, das Verpasste nachzuholen. Nachhilfe und ein Bildungspaket sind das eine. Zugewandtheit und Toleranz das andere. Wir alle können dazu beitragen, dass diese Gesellschaft kinder- und jugendfreundlicher wird. Die jungen Menschen haben es sich mehr als verdient.

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Die Autorin hat selbst zwei jugendliche Söhne (15 und 17). Sie und ihr Mann verbringen die Pandemie größtenteils im Homeoffice.

Redaktion Nachrichtenchefin mit Schwerpunkt Wissenschaftsjournalismus

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