Europäische Gipfeltreffen folgen einem strikten Ritual: Ein Staats- oder Regierungschef nach dem anderen trifft im Brüsseler Europa-Gebäude ein, nutzt die angebotenen Mikrofone für ein paar bekannte Phrasen und verschwindet im Inneren. Nur wer als Zuschauer am Ende der Polit-Parade noch nicht abgeschaltet hat, bekommt ein anderes Bild zu sehen: Da stehen die Großen dieser Union zusammen und scharen sich immer um die gleiche Person: Angela Merkel. Die deutsche Kanzlerin muss nicht rufen, man kommt zu ihr. Die dienstälteste Regierungschefin der Union hat Gewicht. „Man hört auf sie“, sagte der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor wenigen Wochen gegenüber unserer Zeitung.
Das ist beides: das vielleicht größte Lob, aber auch eine nüchterne Analyse der Rolle, die Merkel in den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft in Brüssel spielte. Sie war 51, als sie im Dezember 2005 zum ersten Mal als Bundeskanzlerin am Tisch der Großen in Brüssel Platz nahm. Es herrschte Aufbruchsstimmung. Erst im Jahr zuvor hatte die EU zehn neue Länder vom Baltikum über den Osten bis zum Mittelmeer aufgenommen. Die europäische Euphorie grassierte in nahezu allen Staaten. Auf dem Tisch lag der Entwurf einer EU-Verfassung. Der Traum von den Vereinigten Staaten von Europa schien in greifbarer Nähe zu sein. Er scheiterte.
Lob ausgerechnet aus Polen
Es war nur der Auftakt zu einer Aneinanderreihung von Krisen, von denen nur wenige dauerhaft gelöst wurden: Finanz- und Staatsschuldenkrise, die Fluchtwelle Richtung Europa, die Pandemie und zum Schluss nun Afghanistan, das unrühmliche Ende eines zwei Jahrzehnte dauernden Versuchs, aus dem Land am Hindukusch eine stabile Demokratie zu machen. „Die Verfassung Europas hat sich in den 16 Jahren Merkel nicht wirklich verbessert“, bilanzierte die ZDF-Korrespondentin Anne Gellinek vor wenigen Tagen in einem Gespräch mit dem Westdeutschen Rundfunk. Das stimmt. Und doch würde niemand in Brüssel der deutschen Kanzlerin ein europäisches Scheitern attestieren wollen.
„Ohne sie wäre Europa längst auseinandergefallen“, bilanzierte vor einiger Zeit der Mentor der polnischen Regierung und Parteichef der national ausgerichteten PiS-Partei Jaroslaw Kaczynski. Es ist eine erstaunliche Reaktion, gerade von diesem Politiker, dem man keine allzu große Liebe für Europa und Brüssel nachsagen kann. Tatsächlich bescheinigen Anhänger und Gegner der deutschen Kanzlerin, die 27er-Gemeinschaft zusammengehalten zu haben. Ihr Credo „Das ist besser, als wenn jeder für sich handelt“ hat tiefe Spuren hinterlassen, auch wenn es mal nur wenige oder keine Ergebnisse gab – oder manchmal sehr überraschende.
Laschet: Mit Merkel „völlig im Reinen“
CDU-Chef Armin Laschet sieht sich als Kanzlerkandidat der Union ausreichend von Amtsinhaberin Angela Merkel unterstützt– auch wenn sie noch nicht direkt zu seiner Wahl aufgerufen hat.
Er finde nicht, dass sich Merkel mit Unterstützung zurückhalte, sagte Laschet am Mittwochabend bei der Vorstellung des Buches „Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Zeit“ des Historikers und Journalisten Ralph Bollmann in Berlin. „Eine Wahlkampfkundgebung muss man schon selbst machen. Ein Kanzleramt ererbt man übrigens nicht. Das muss man sich erkämpfen“, sagte Laschet.
In der Union gibt es hinter vorgehaltener Hand Kritik, Merkel engagiere sich im Wahlkampf nicht ausreichend für Laschet. Der CDU-Chef sagte auf Reporterfragen: „Das ist das wichtigste Amt in Europa. Und das erfordert, dass der, der es will, es sich selbst erkämpft, und nicht von der Gunst des Vorgängers abhängt.“
Er ergänzte: „Ich bin mit ihr da völlig im Reinen. Wir reden sehr viel. Sie unterstützt, wo sie kann.“ Es sei aber „nicht so, dass sie auf die Wahlkampfbühnen mit mir zieht und neben mir steht und Wahlempfehlungen abgibt“. Dies sei angemessen und richtig. (dpa)
Anfang 2010 lehnte Merkel in der beginnenden Griechenland-Krise jede bilaterale Hilfe für Athen ab. Ein halbes Jahr später sagte sie 17 Milliarden Euro für einen europäischen Rettungsschirm zu. Selbst der damalige linke Premier Alexis Tsipras hörte auf die deutsche Regierungschefin. Wie übrigens auch der ab 2014 amtierende Ministerpräsident Matteo Renzi aus dem völlig überschuldeten Italien. Von ihm hieß es, Merkel habe ihm die anstehenden Reformen diktiert, die Renzi in einem kleinen Notizbuch aufschrieb und beim nächsten Treffen zeigte, was er abgehakt hatte. Ob diese Anekdote wirklich stimmt, ist nicht sicher. Dass sie zur Rolle Merkels passte, steht außer Frage. In einer Bilanz der Wochenzeitung „Die Zeit“ wird Merkels Fähigkeit, alle zusammenzuhalten, als „entfeinden“ bezeichnet.
Das trifft auch ihre Brüsseler Aura. Im Juni dieses Jahres, es war Merkels letzter EU-Gipfel als amtierende Regierungschefin, kam es zu einem fast beispiellos heftigen Streit zwischen den Staats- und Regierungschefs. Anlass war das sogenannte Homosexuellen-Gesetz des Ungarn Viktor Orbán. Merkel sprach anschließend von „einer kontroversen, ehrlichen Diskussion, die wir vielleicht öfter führen müssten“. Das war eine erstaunliche, fast schon verfälschende Beschreibung des Abends, an dem zumindest einer aus der Runde (Mark Rutte aus den Niederlanden) dem Kollegen aus Budapest nahelegte, die EU zu verlassen. Merkel entemotionalisierte den offenen Krach so weit, dass sie weiter mit Orbán sprechfähig blieb. Das kann man harmoniesüchtig nennen. Aber in Brüssel hält man so den Laden zusammen.
„Weihnachten noch Kanzlerin“?
Auch das Jahr 2021 wird nach Ansicht von Linksfraktionschef Dietmar Bartsch mit einer Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu Ende gehen – trotz Bundestagswahl. „Meine Einschätzung ist: Angela Merkel ist zu Weihnachten noch Bundeskanzlerin“, sagte Bartsch in einem Video auf dem Instagram-Kanal des Fernsehsenders Phoenix. Er begründete das mit voraussichtlich langwierigen Koalitionsverhandlungen nach der Wahl am 26. September.
„Meine Prognose ist, dass es sehr lange dauern wird, weil es wird vermutlich keine Partei auch nur in die Nähe von 30 Prozent kommen, und das wird dazu führen, dass es diverse Koalitionsoptionen gibt“, sagte Bartsch.
Zwar endet Merkels Amtszeit offiziell mit der konstituierenden Sitzung des neu gewählten Bundestages nach der Wahl. Sie würde voraussichtlich aber bis zur Bildung einer neuen Regierung geschäftsführend im Amt bleiben und könnte Helmut Kohl (CDU) überholen: Keiner war bisher länger im Amt als er. Kohl regierte zwischen dem 1. Oktober 1982 und dem 26. Oktober 1998 genau 5869 Tage. Das hätte Merkel am 17. Dezember erreicht.
Dabei gibt es auch die andere Seite der Kanzlerin, die ihren trockenen Humor nur abseits der Kamera rauslässt. Mit feiner Spitze und nahezu perfekt imitiert sie dann Amtskollegen wie den früheren französischen Premierminister Nicolas Sarkozy. Der wusste das wohl, soll sich aber – wie es heißt – geschmeichelt gefühlt haben. Doch die deutsch-französische Achse hat – abgesehen von viel reibungslos laufender Routine – einiges von ihrer früheren Durchschlagskraft eingebüßt. Merkel verlässt die europäische Bühne gerade in dieser Frage mit einer Niederlage.
Im Juni hatten Präsident Emmanuel Macron und sie einen Vorstoß zur Verbesserung der miserablen Beziehungen mit Russland gewagt. Die EU solle nach einem „Forum für Gespräche“ mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin suchen, forderten beide bei den Brüsseler Beratungen mit den Amtskollegen – sie wurden fast schon brüsk zurückgewiesen. Der zunächst latente und dann immer offenere Widerstand gegen deutsch-französische Alleingänge (andere Premiers sprachen offen von Versuchen der Bevormundung) brach sich an diesem Abend Bahn.
Politische Bodenständigkeit
Nun tat sich die Bundeskanzlerin nie durch europäische Visionen hervor. Die promovierte Physikerin blieb in Brüssel immer für ihre politische Bodenständigkeit bekannt: Sie sinnierte lieber über Verträge und Mehrheiten als über weit entfernte Ziele. Das machte das Miteinander mit dem jungen französischen Staatspräsidenten mitunter schwierig. Macron setzte in seiner Rede vor der Sorbonne im Oktober 2019 eigene Akzente für ein neues Europa. Merkel blieb zurückhaltend. (Ab-)Spaltungen kamen in ihrem Bild von Europa nicht vor. Vielleicht ebnete sie auch deshalb Brüche zwischen den EU-Staaten selbst dann noch rhetorisch ein, als diese kaum noch zu übersehen waren. Das US-Nachrichtenmagazin Time begründete 2015 die Wahl Merkels zur „Person des Jahres“ damit, dass Merkel in jeder Krise, die Europa bewältigen müsse, eingegriffen habe. Damit sei sie die „Kanzlerin der freien Welt“.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Wer kann Merkel? - Die Kandidaten wetteifern darum, wie sie zu sein