Bundestagswahl

Ein Mannheimer erklärt, warum er die AfD wählt

„Ich wähle AfD. Das können Sie auch so schreiben“, sagt Jürgen Wetterich vor dem Wahllokal. Eine Suche nach Beweggründen – und ein Faktencheck.

Von 
Kilian Harmening
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Mannheim. Zorn schwingt in seiner Stimme mit, Bestimmtheit, einiges an Verzweiflung. Jürgen Wetterich ist enttäuscht von den Parteien der Mitte. Wir treffen den Rentner am Wahltag vor der Käthe-Kollwitz-Schule im Herzogenried – kurz bevor er seine Stimme abgibt. „Ich bin AfDler, dazu stehe ich“, sagt er. Was bewegt ihn?

Im Gespräch mit Wetterich fallen Sätze wie dieser: „Es war nicht alles schlecht, was Hitler gemacht hat.“ Gründe für diese Behauptung nennt er keine. Kann man ihm eine Relativierung der NS-Zeit vorwerfen? Angesprochen auf die Millionen von Menschen, die in Konzentrationslagern ermordet worden sind, lenkt Wetterich ein, findet keine Antwort – und lenkt ab: „Was sehen Sie heute mit der Hamas? Was sehen Sie in Palästina?“

Dass er sich solche Verhältnisse nicht in Deutschland wünscht, darüber muss Wetterich nicht nachdenken. Es sind keine menschenfeindlichen Ansichten, die bei ihm anklingen – dafür Befürchtungen und Wünsche. Seine größte Sorge? Preissteigerungen, hohe Mieten. Auch andere Themen: marode Brücken, Krise in der Automobilbranche, Zweifel an innerer Sicherheit.

Zum offenherzigen Gespräch mit dem „MM“ kommt es ganz spontan – dauern soll es fast 20 Minuten. Jürgen Wetterich zeigt sich gesprächsbereit, gibt Einblicke in seine politische Wahrnehmung, wirft mehrfach ein: „Ich wähle AfD. Das können Sie auch so schreiben.“ Unser Anliegen ist, seine Gefühlslage besser zu verstehen.

Seine Frau sagt, sie selbst würde nie die AfD wählen

Die Frage: Finden Sie, dass die AfD für Ihre Probleme Lösungen anbietet? Der Rentner antwortet: „Das weiß ich nicht.“ Eine Gelegenheit für ihn, seine Kritik an den Ampel-Parteien zu erneuern: „Finden Sie, dass die SPD die Lösungen anbietet? Die FDP? Da kann mir einer erzählen, was er will.“ Wetterich ist 1946 in Deutschland geboren. Er kritisiert die Größe des Bundestags, das aus seiner Sicht zu hohe Bürgergeld und fordert die Abschiebung von Straftätern – hier ist er sich mit vielen demokratischen Parteien einig. Warum wirkt er dennoch kompromisslos von der AfD überzeugt?

Teil des Gesprächs ist seine Frau Marion Wetterich, ebenfalls unzufrieden: „Ich weiß gar nicht mehr, was ich wählen soll, muss ich wirklich sagen.“ Welches Ergebnis sie sich erhofft? „Ich vermute, wenn ich das alles so sehe: Die AfD kommt weit“, sagt sie besorgt. „Weil die Leute einfach unzufrieden sind.“

Das Überraschende: Sie selbst würde nie die AfD wählen, wie sie sagt. Politischen Diskussionen in der Familie geht sie aus dem Weg. Ihrem Mann will sie nicht verraten, für welche Partei sie sich letztendlich entscheidet. Dass er AfD-Wähler ist, toleriert sie. Zähneknirschend.

Angesprochen auf einen Verdienst der Ampel – die Wahlrechtsreform – sagt Jürgen Wetterich: „Von den 630 Leuten, die noch da sind, gehören wieder 300 weg. Ich wähle AfD!“ Seine Frau beschwichtigt: „Es will dich ja auch niemand abbringen. Mach‘ grad, wie du denkst.“ Als noch einmal die Frage aufkommt, was die AfD in seinem Leben besser machen würde, platzt es aus Marion Wetterich heraus: „Ja, sag‘ mal, was denkst du?“ Ihr Mann verweist auf das vorgelegte Wahlprogramm. Aber ein konkretes Beispiel fällt ihm nicht ein.

Die AfD wird von vielen Menschen gewählt, die unter ihrer Politik das Nachsehen hätten

Seine Beweggründe zeichnen sich trotzdem ab. Etwa, dass er die aktuelle Politik als Bedrohung für seinen Wohlstand und seine Lebensweise empfindet. Diese Ansicht teilt er mit vielen AfD-Wählern. Die Crux daran: Kleine und mittlere Einkommen möchte die AfD de facto nicht entlasten. Das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hat die Wahlprogramme analysiert. Das Ergebnis: Die Versprechen der AfD – ähnlich bei Union und FDP – würden die Einkommensungleichheit im vereinten Deutschland auf ein nie dagewesenes Maß erhöhen. Erst Wählern mit einem Bruttojahresgehalt über 50.000 Euro spült die AfD-Politik mehr Geld in die Tasche, so das ZEW. Der fast 80-Jährige entscheidet sich also für eine Partei, deren Wirtschaftspolitik ihm laut Experten mehr schadet als nützt. Warum?

Jürgen Wetterich ist kein Einzelfall. Seine Sorgen sind als Symptom einer Politik zu verstehen, die mit historisch schlechten Zustimmungswerten kämpft. Viele fühlen sich nicht mehr gehört und gesehen – ein subjektives Empfinden, das für Menschen oft stärker wiegt als nüchterne Fakten.

Menschen folgen dieser Psychologie – in ihren Lebensträumen, Beziehungen, bei Kaufentscheidungen. Auch radikale Parteien machen sich das mit Schwarzweiß-Versprechen zunutze. Die Macht, die ihnen durch das gewonnene Vertrauen zuteil wird, nutzen sie aber häufig für parteieigene Zwecke. Solche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen sind ein Grund, warum die AfD vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

Unter Arbeitern findet die Partei seit Jahren wachsenden Zuspruch, obwohl sie Positionen vertritt, die den Bedürfnissen von Arbeitnehmern oft entgegenstehen. Bei der Bundestagswahl legte die AfD in dieser Beschäftigungsgruppe auf fast 40 Prozent zu und läuft der SPD klar den Rang ab. Wählen all diese Menschen aus Protest? Oder setzen sie darauf, dass diese Partei ihre Interessen besser vertritt? Oder ist es tatsächlich die überzeugte Entscheidung für eine Partei, die sich auf Marktplätzen und in Wahlkampfreden immer wieder kritisch zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung äußert?

Robert Habeck wird zum Inbegriff einer verfehlten Politik

Durchblicken lässt Wetterich, dass er andere Parteien als größere Bedrohung empfindet. Robert Habeck hält er für jemanden, der „alles niedermacht und dem kleinen Mann den letzten Pfennig aus der Tasche zieht“. Belege, die diesen Vorwurf stützen, liefert er nicht – es bleibt eine zugespitzte Behauptung.

In dieser Erzählung wird Habeck zum Inbegriff einer verfehlten Politik, Wetterich unterstellt ihm böse Absichten. Die Realität ist komplexer: Richtig ist, dass Energiepreise unter der Ampel stark stiegen, nicht zuletzt durch den Krieg in der Ukraine und die Inflation. Habeck brachte immerhin einzelne Entlastungspakete und eine Strompreisbremse auf den Weg. Aber: Das Heizungsgesetz nehmen ihm auch viele AfD-Wähler übel.

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Zurück bleibt ein zerknirschtes Vertrauensverhältnis zu „denen da oben“. CDU oder eine der Ampel-Parteien zu wählen, kann sich Wetterich nicht vorstellen. Angesprochen auf die Linke, die immerhin – Wetterichs zentraler Wunsch – die Rente erhöhen und Schulen sanieren will, zeigt der sich überrascht. „Wo holen die das Geld her? Wieder von uns?“ Falsch. Wir klären ihn auf: Die Linke möchte eine Vermögenssteuer einführen.

Laut ZEW wären Rentner und andere Niedrigverdiener Hauptprofiteur linker Politik. Ein Gegenargument fällt Wetterich nicht mehr ein, der auf dem Weg ins Wahllokal noch in ein intensives Gespräch mit seiner Frau verfällt. Ob sie ihn umstimmen kann?

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