Viernheim. Hier wohnen zwei ebenso geistreiche wie unprätentiöse Menschen. Das Besondere an diesem außergewöhnlichen Zuhause lässt sich ohne die Skizze seiner Bewohner nicht hinreichend beschreiben. Jeder Quadratzentimeter bringt ihr Wesen und ihre Leidenschaften zum Ausdruck: ihre Liebe zur Literatur, zur Malerei, zur Musik - und zur Provence. Die umgibt den Gast beim ersten Schritt hinein. Ein Besuch bei Gretchen von Seggern und ihrem Mann Wolfgang Geisler in der Lindenstraße Nummer 4.
Die Nummer 4: Winziges Fachwerkhäuschen in einem Viernheimer Gässlein
Dieses Gässlein erscheint als eines der wohl unscheinbarsten im alten Viernheim. Wäre da nicht die Nummer 4. Ein winziges Fachwerkhäuschen inmitten der üblichen Altviernheimer Wohnnormalität. Die äußerliche Winzigkeit indes verblasst im Inneren. Klein ist es, ja, und kuschelig - und doch entfaltet sich zugleich Raum. Aber der Reihe nach.
Gretchen von Seggern und Wolfgang Geisler waren beide Gymnasiallehrer. Sie hatte Deutsch, Französisch und Politik studiert, leitete bis zum Ruhestand den Fachbereich Sprache und Kunst am Gymnasium in Rimbach. Er ist Politikwissenschaftler und Germanist, war zuletzt Leiter der Alexander-von-Humboldt-Schule (AvH) in Viernheim.
Das Fachwerkhaus glich einer Ruine
Sie suchten ein Haus in Viernheim. Und der Makler bot ihnen die Lindenstraße 4 an. Es war schon lange nicht mehr bewohnbar, glich einer Ruine. Der Makler hockte lange darauf, niemand wollte das Haus. Aber bei von Seggern und Geisler hatte es gefunkt, und sie schlugen ein. Das war vor 24 Jahren. Zuvor hatten sie den ihnen damals flüchtig bekannten Heidelberger Architekten Frank Stichs um Rat gefragt, und der gab grünes Licht. So ganz grundsätzlich.
Aber wie sollte man es umgestalten? Unter Denkmalschutz stand es schließlich nicht, die Räume im Erdgeschoss waren klein und dunkel. „Und das Dachgeschoss war zu, „da oben gab es nur ein altes Klo und eine Rolle Stacheldraht“, sagt Geisler. Der Architekt habe gesagt, man müsse sich erst einmal besser kennenlernen - wozu es eines langen Abends und einer großen Menge Rotweins bedürfe. Heraus kamen diese Schwerpunkte: Die Kinder und Enkelkinder und Freunde sollten hier unterkommen können. Und es sollte ein Leben mit Kunst, Büchern und Musik möglich sein.
„Stichs hat hier alles auf den Kopf gestellt“, berichten die Bewohner. Es verschwanden Wände, die Anordnung der Räume wurde herumgedreht, Erhaltenswertes sollte erhalten werden. Das Ergebnis lässt sich sehen - nein, es ist beeindruckend. Noch der letzte Winkel ist nutzbar.
Der erste Schritt ins Haus führt auf eine Holzplatte im Boden. „Da geht es in den Keller“, sagt Gretchen von Seggern und öffnet die Falltür mit einem Strick. Vom Eingang fällt der Blick auf den Essbereich gegenüber, er befindet sich an der Seite zur Straße. Die verspielten kleinen Fenster fallen ins Auge. Wie behaglich. Auf der anderen Seite, dem Wohnbereich mit Sesseln im Le-Corbusier-Stil, gibt eine bodentiefe Glasfront den noch winterstummen kleinen Garten frei. Die Sonne blinzelt kurz und taucht das Erdgeschoss in helles, warmes Licht. Bei Dunkelheit übernehmen das viele kleine Lampen. Die kleinen Fenster hier, das große gläserne Schiebeelement da - kein Gegensatz, sondern völlige Harmonie.
Architekt inszeniert das Haus
Der Architekt hat dieses Haus regelrecht inszeniert. Und seine Bewohner setzen darin ihre Leidenschaften in Szene: Wo nicht zahllose Bilder und Gemälde die sanftweißen Wände bedecken, dort sind es Bücherregale, bestückt mit zusammen gewiss Tausenden Exemplaren. Das Mobiliar, die Kunst an den Wänden, die Lämpchen sind zumeist Einzelstücke und Stile unterschiedlichster Herkunft. Und Zeugen vieler Reisen. Aber es ist nicht Kakophonie, die sie widerstrahlen, es ist die stimmige Zusammenführung verschiedenster Dinge zu einer einzigen Aussage: Das ist unser Leben.
Die Beiden bewegen sich genussvoll durch ihr Haus. Sie führen ihren Gast nach oben. Erstaunlich. Hier finden sich zwei Arbeitszimmer, ein Schlafzimmer und das Bad. Alte Balken begleiten einen auf Schritt und tritt. Im Arbeitszimmer von von Seggern führt eine steile Holztreppe noch weiter nach oben. Dort sind zwei Schlafplätze für Besucher eingerichtet. „Und ich verbringe da hin und wieder die Mittagspause. Es ist herrlich“, schwärmt die Gattin flüsternd. Tatsächlich, jeder Winkel . . .
Zukunftsorientiertes Wohnen muss nicht zwingend neu sein
Wolfgang Geisler zitiert einen Literaten: „Wohnen ist eine allgemein unterschätzte Tätigkeit.“ Da ist was dran. Man ist sich seiner vier Wände und deren persönlicher Prägung womöglich mitunter nicht bewusst genug. Nicht so von Seggern und Geisler. Ihre Augen leuchten, wenn ihr Blick über die Wände schweift.
Nicht zuletzt ist dieses über 200 Jahre alte Kleinod Beleg dafür, dass zukunftsorientiertes Wohnen nicht zwingend mit neu, glatt, Stahl, Glas und Beton einhergehen muss. Die AvH hat sich früh zur Ökologie bekannt. „Und als ihr damaliger Leiter dachte ich, ich müsse auch persönlich Farbe bekennen“, sagt Geisler. So wurde damals nicht nur das Gemäuer im Inneren umgestaltet.
Das Haus ist von außen gedämmt, an der Fachwerkseite zur Straße hin natürlich von innen. Warmes Wasser wird mittels Sonnenergie erzeugt, eine Gastherme wurde unter dem Dach installiert. „Das war seinerzeit nicht üblich, und es brauchte Überzeugungskraft für den Handwerker“, so Geisler. Vergangenes Jahr kam noch eine Photovoltaikanlage auf dem Dach hinzu, auf der nach Süden ausgerichteten Fläche.
Nicht ohne Stolz sagt Wolfgang Geisler: „Kommen Sie mal mit, ich will Ihnen noch etwas zeigen.“ Dann stehen wir vor einem vertikalen Balken im Eingangsbereich, dort hängt eine acrylgläserne Medaille: „Preisträger des Landeswettbewerbs Energetische Gebäudesanierung 2000“, darunter der hessische Löwe. Sie seien der Stadt Viernheim noch heute dankbar, weil sie sie gut beraten habe bei der Sanierung, so Geisler.
Apropos Balken. Sie sind nicht etwa, wie man erwarten dürfte, in tiefem Braun belassen. Der Architekt habe gesagt „Ihr wollt es hell, also streichen wir sie hellgrau“, berichtet Geisler. Und: „Frank Stichs hatte auch hier recht - genau so wollen wir wohnen.“
Auf seinem Heimweg ertappt sich der Autor bei einem breiten Lächeln. Dieser Termin hatte etwas Inspirierendes.
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