Israel

Wie eine Mannheimerin in Tel Aviv den Kriegsausbruch erlebt hat

Ihren diesjährigen Geburtstag wird die Mannheimerin Orna Marhöfer wohl nie vergessen. Sie verbrachte ihn bei der Familie in Tel Aviv, es war der 6. Oktober. Am nächsten Tag dann der Schock - und eine Geburt zwischen Bombenalarm

Von 
Konstantin Groß
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Von Raketen zerstörtes Haus in Tel Aviv: Die in normalen Zeiten pulsierende Metropole wird Opfer von Angriffen der Hamas aus dem Gazastreifen. © dpa

Mannheim. Dienstagvormittag dieser Woche. Ich treffe Orna Marhöfer im Café „Kult“ in der Seckenheimer Straße. Genau drei Wochen zuvor sitzen wir an gleicher Stelle, bei herbstlicher Sonne im Freien. Damals spreche ich mit der langjährigen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Mannheims im Vorfeld ihres 70. Geburtstages über erfreuliche Dinge: ihr ehrenamtliches Engagement, die anstehende Geburt ihrer Enkelin, ihre bevorstehende Reise nach Israel.

Doch nun, drei Wochen später, ist nicht nur das Wetter düster. Die Welt hat sich komplett geändert: Es herrscht Krieg in Israel. Als er beginnt, ist Orna Marhöfer vor Ort, in Tel Aviv. Und in all dem Leiden und Sterben entsteht neues Leben: Ihre Tochter bringt ein Baby zur Welt.

Wechselbad der Gefühle in Tel Aviv

„Ein wahres Wechselbad der Gefühle“, bekennt Marhöfer. Noch am Freitag, 6. Oktober, feiert sie mit ihrer Familie in Tel Aviv ihren 70. Geburtstag. Es wird ein fröhliches Fest. Alle sind überglücklich, zumal Orna Marhöfers Tochter für alle sichtbar in Kürze ihr Baby erwartet.

Am Morgen , Samstag, 7. Oktober, der Schock: „Ich bin früh aufgestanden und setzte mich ins Wohnzimmer“, berichtet Orna Marhöfer, „und plötzlich hörte ich Sirenen“. Fehlalarm, denkt sie zunächst. Doch dann registriert sie hektische Betriebsamkeit auf dem Flur, die Nachbarn verlassen ihre Wohnungen. Orna Marhöfer weckt ihren Mann.

Alle Neubauten in Israel verfügen über bombensicheren Raum

Gemeinsam begeben sie sich in einen bombensicheren Raum. Alle Neubauten in Israel verfügen über derartige Safe Rooms. Noch vier Mal den Tag über und drei Mal nachts werden sie ihn aufsuchen müssen. Und das nicht ohne Grund: Viele der Hamas-Raketen werden vom legendären Abwehrsystem Iron Dome abgefangen, einige aber auch nicht: „Ganz in unserer Nähe ging eine Granate in einem Garten nieder.“

Orna Marhöfer berichtet von einer Stadt im Krieg. © Konstantin Groß

Das Leben in einem Schutzraum – für Marhöfer eine völlig neue Erfahrung. Eine bedrückende. Manche Hausbewohner tragen noch ihren Schlafanzug. Mit der Zeit prägt diese Bedrohung den Alltag: „Wenn wir ins Bett gingen, haben wir uns leichte Kleidung angezogen, falls wir wieder in den Schutzraum müssen.“ Und gleichzeitig doch auch eine unheimlich große gegenseitige Hilfe: „Die Nachbarn schauen aufeinander, ob auch alle im Schutzraum sind, niemand vergessen wurde.“

Und in all dem aber auch das: Am Ende dieses schrecklichen ersten Kriegstages, in der Nacht zum Sonntag, bringt Orna Marhöfers Tochter ein gesundes Baby zur Welt. Ein Mädchen namens Shira. Neues Leben in einer Umgebung von Angst, Leiden und Sterben. Davon bleibt auch das Krankenhaus selbst nicht verschont. Während Marhöfer und ihr Mann in der Klinik ihre Tochter und ihre Enkelin besuchen, ertönt zwei Mal Bombenalarm. „Was man da erlebt, ist einfach erschütternd.“

Pfleger und Schwestern schnappen die Babys, spurten los, bringen die Kleinen in den Schutzraum. In ihm sind schon bisher die Frühchen. Denn sie kann man nicht so schnell abschnallen, nicht so einfach transportieren. Und trotz der Gefahr keine Panik: Ärzte, Pfleger, Schwestern – alle wissen einfach, was zu tun ist.

Straßen in Tel Aviv sind leer

In den Tagen darauf: keine Spur von Normalisierung. Nur die Angst wird zur Routine. Tel Aviv, in normalen Zeiten eine pulsierende, bunte Metropole, steht still. Die Straßen sind leer, die Geschäfte geschlossen, die Menschen bleiben zu Hause.

Und wer dennoch von A nach B muss, der nimmt ein Taxi. Sobald dann Bombenalarm ertönt, hält der Wagen an, und alle springen raus, retten sich in die anliegenden Häuser. „Und sind keine da, dann wirft man sich auf den Boden.“ Szenen wie in einem Katastrophenfilm. „Aber es ist traurige Realität“, seufzt Marhöfer.

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Am dritten Tag wird klar, dass die Lage zunehmend eskaliert. Marhöfers hören von europäischen Staaten, die ihre Bürger ausfliegen. Am Mittwochabend lässt Orna Marhöfer sich und ihre Familie daher in die Kriseninterventionsliste des Auswärtigen Amtes eintragen.

Mit dem letzten Flug zurück in Sicherheit

Doch bis die Ausreise möglich wird, bedarf es noch starker Nerven. Über eine Hotline bei der Lufthansa muss man sich anmelden. Doch die Frankfurter Telefonnummer ist permanent besetzt. „Ich habe es mindestens 200 Mal versucht, mein Mann ebenso oft, vergebens.“ Es ist ein Bekannter in Mannheim, der es schafft, für sie und ihre Familie die benötigten Plätze zu reservieren. Mit dem letzten Flieger der Lufthansa verlassen sie am Freitag um 13.30 Uhr das heimgesuchte Land.

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„Die Besatzung war sehr, sehr zuvorkommend, hat sich viel um uns gekümmert“, lobt Marhöfer: „Die Atmosphäre war eine ganz andere, als wenn man sonst fliegt.“ Auf Grund der Gefahr, die ein solcher Flug trotz aller Vorkehrungen immer noch bedeutet, sind Piloten und Stewardessen nicht „dienstverpflichtet“, sondern freiwillig dabei. „Was hat Sie veranlasst, sich zu melden?“, fragt Marhöfer eine der Stewardessen. Deren Antwort bewegt sie: „Wenn ich oder meine Familie in einer solchen Not wären“, antwortet die junge Frau, „dann wäre auch ich dankbar, wenn man mich heimholen würde.“

Seit Freitag wieder in Mannheim

Seit letzten Freitag ist Marhöfer wieder zu Hause. Erst allmählich schafft sie es, im umfassenden Sinne des Wortes anzukommen, das Erlebte halbwegs zu reflektieren. Aber ihre Gedanken sind noch in Israel, wo ihre Tochter und Enkelin und andere Angehörige geblieben sind. Und ihre Sorgen um sie sind groß: Ihr Schwiegersohn ist als Vater eines Neugeborenen noch nicht unter den eingezogenen Reservisten. Möglich, dass er auch er bald einrücken muss.

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„Die Menschen halten ganz fest zusammen“, berichtet sie. „In der existenziellen Bedrohung wird die Spaltung des Landes überwunden, das macht die Stärke Israels aus.“ Und sie fügt hinzu: „Das hat sich die Hamas anders vorgestellt.“ Von überall kommen junge Männer, um in der Armee zu dienen. Marhöfer erzählt von einem, der bislang in Südamerika lebt. Über mehrere Stationen reist er an, um sich zu melden.

Und wie beurteilt sie die Reaktionen bei uns? „Die Solidarität in Deutschland im Allgemeinen und auch in Mannheim tut gut“, bekennt sie. „Aber ich würde mir wünschen, dass auch die muslimischen Gemeinden ihre Stimmen lauter gegen den Terror erheben würden.“

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