Mannheim/Haifa. Als Michal Burstein, Yonathan Bar-On und Oren Thaler am vorvergangenen Freitag in ihren Wohnungen in Haifa ins Bett gingen, wussten sie nicht, dass die Welt, in der sie am nächsten Morgen aufwachen würden, eine andere sein würde. Eine, in der die Hamas mehr als 1300 Israelis getötet haben werden und Israel der radikal-islamischen Organisation den Krieg erklärt haben wird. Eine Welt, in der Geschäfte geschlossen, die Straßen leer sind, die Schulen auf Online-Unterricht umgestellt haben, eine Welt, die nur noch aus den eigenen vier Wände besteht. Auf unbestimmte Zeit.
Noch immer im Schock
„Wir sind noch immer im Schock, wir hätten niemals gedacht, dass so etwas Schreckliches geschehen kann“, sagt Oren. Wie Yonathan und Michal lehrt er am Leo Baeck Education Center, einer Bildungseinrichtung, zu der ein Kindergarten, eine Grundschule und eine weiterführende Schule gehören. Gegründet wurde das Zentrum 1938 als kleine Kindergartengruppe. Initiator war der liberale Rabbiner Max Meir Elk, ein Schüler Leo Baecks, der gebürtig aus Frankfurt stammte und in den 1930er nach Haifa emigrierte. Sie gilt heute als eine der bedeutendsten Einrichtungen des Reformjudentums. Mit der Stadt Mannheim, die Partnerstadt von Haifa ist, verbindet die Schule eine enge Beziehung, seit 2007 findet einmal im Jahr ein Schüleraustausch mit dem Lessing-Gymnasium statt.
Vor wenigen Tagen noch ein Besuch in Mannheim
Michal, Yonathan und Oren waren alle schon in Mannheim. Oren sagt: „Mir gefällt die Stadt, sie ist so schön kompakt.“ Yonathan war bei der Amtseinführung von Oberbürgermeister Christian Specht dabei. „Das war ein schönes Fest, und dann fliege ich nach Israel zurück, und es ist die Hölle, der Kontrast könnte nicht größer sein“, sagt Yonathan, der kurz vor den Angriffen der Hamas nach Haifa zurückkehrte. Viele Menschen hätten ihm geschrieben: „Geht es dir gut?“ Das habe ihm geholfen. „Ich hatte bis dahin keine Ahnung, wie wichtig Anteilnahme sein kann.“
Eng vernetzte Gesellschaft
Auch wenn sie räumlich ein Stück entfernt sind von den Geschehnissen im Süden des Landes, wo der Gaza-Streifen und damit das Epizentrums des Schreckens liegt, sind doch alle betroffen. Jeder kennt jemanden, der bei dem Terror-Überfall gestorben ist oder von der Hamas entführt wurde.
Die, die überlebt haben, sind gezeichnet fürs Leben. Michal erzählt von einer ehemaligen Schülerin, die mit Freunden beim Musikfestival war, wo die Terror-Gruppe ihr größtes Massaker mit mehr als 260 Toten verübte. „Sie hat sich mit zehn Leuten in einem Müllcontainer versteckt“, sagt Michal, die selbst vier Kinder hat. Doch die Hamas schießt auf den Müllcontainer, zwei der Freunde sterben, das Mädchen wird von drei Schüssen getroffen. Von zwei anderen ehemaligen Schülern ihrer Schule wissen die Lehrer, dass sie den Morgen nicht überlebt haben.
Fatale Fehleinschätzung der Lage im Gazastreifen
„Es ist eine Tragödie, alles, an das wir geglaubt haben, gilt nicht mehr“, sagt Oren. Als sich Israel 2005 aus dem Gazastreifen mit seinen dort lebenden mehr als zwei Millionen Palästinensern zurückzog, bestand die Hoffnung, dass die Hamas sich um die Menschen kümmern würde. Stattdessen grub sie Tunnel und bereitete den Terrorakt vor. „Wir waren überzeugt, wir brauchen keine Gewalt, um den Konflikt zu lösen.“ Nun aber bleibe Israel keine andere Wahl, als die Hamas auszuschalten.
Dafür zieht das Militär alle verfügbaren Reservisten ein. Auch Michals Brüder. „Für meine Eltern ist das eine große Belastung, sie sind über 80“, sagt Michal. Einer der Brüder wurde in einen Kibbuz beordert, wo die Hamas-Terroristen wüteten, der andere ist im Westjordanland stationiert. Auch Yonathans Sohn wurde eingezogen, er arbeitet beim Militärsender in Tel Aviv, der rund um die Uhr Nachrichten sendet.
Oren sagt, er schaue sich die Videos über die Gräueltaten, die in den sozialen Medien kursierten, nicht an. Er fürchtet, die Bilder dann nie wieder loszuwerden. Auch Yonathan sagt: „Ich bin so müde.“ Er brauche immer wieder eine Pause, er schaue dann Netflix und höre Musik. „Ich bin nach einer Woche schon erschöpft, physisch und psychisch.“
Raketen aus dem Libanon bedrohen Haifa
Immer wieder wird auch der Norden des Landes in Alarmbereitschaft versetzt. Seit Jahrzehnten ist im Libanon die radikale Hisbollah aktiv, bislang hält sie sich mit einer größeren Offensive zurück, doch jeden Tag gehen Raketen von dort auf Israel nieder. Dann beziehen Yonathan und seine Familie den Safe Room in ihrem Apartment. Die neueren Häuser, die nach 1991 gebaut wurden, haben alle ein kleines Zimmer aus Stahlbeton. Da standen bis zum vergangenen Wochenende die Kisten des erwachsenen Sohnes. Nun haben Yonathan und seine Frau ihn mit Wasser und Essen bestückt. Für 72 Stunden sollen die Vorräte reichen.
Einmal im Jahr besuchen Schüler des Leo Baeck Zentrums einen Kibbuz. Vor vier Wochen waren sie in einem der Orte direkt an der Grenze zum Gazastreifen. „Es war beeindruckend zu sehen, wie stark die Gemeinschaft ist, die Menschen haben uns gesagt, ,wir fühlen uns sicher’“, erzählt Oren. Der Kibbuz, den die Schule besucht hat, ist einer, der von der Hamas überfallen wurde. Seine Klasse hat am Sonntag - in Israel ist das der erste Arbeitstag der Woche - Pakete für die Menschen gepackt, die alles verloren haben, auch ihre Zuversicht.
Wenn die israelische Bodenoffensive im Gazastreifen startet und die ersten Bilder von zerstörten Häusern und toten Zivilisten um die Welt gehen, werden sie die von den erschossenen Festivalbesuchern und Leichen in den Kibbuzim überlagern. Darüber machen sich die drei Israelis keine Illusionen. „Man wird schnell vergessen haben, was sie unseren Kindern angetan haben“, sagt Yonathan. Doch es geht hier nicht um Rache, wie Oren betont. „Wir dachten, wir könnten mit der Bedrohung, die unser Land umgibt, leben, am vorletzten Wochenende haben wir aber gelernt: Wir können uns selbst die Bedrohung nicht leisten, wir müssen sie stoppen.“
Yonathan, der ursprünglich aus den Niederlanden stammt und zum jüdischen Glauben konvertiert ist, ist neben seiner Tätigkeit als Lehrer auch Autor und betreut Projekte an verschiedenen Schulen. In einem dieser Projekte übersetzen die Kinder einer arabischen Schule und einer Partnerschule in Stuttgart ein Buch in ihre jeweilige Sprache, ins Deutsche und ins Arabische. In dem Buch geht es viel ums Geben und gegenseitige Akzeptieren. Jetzt liegt das Projekt auf Eis.
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