Mannheim. Schon der Name des Veranstaltungsortes führt zu dem Problem hin. 1905 ist Anna Reiß, Schwester des Unternehmers Carl Reiß, Veranstalterin eines Liederabends im „Apollo“. Dessen Erlös kommt „notleidenden Soldaten“ in Deutsch-Südwestafrika zu Gute. Soldaten, die Träger des Völkermordes an der einheimischen Bevölkerung sind.
„An Anna Reiß wird gerne erinnert als liebsorgende Stifterin“, wundert sich Historiker Bernhard Gißibl (Uni Mainz). Nach ihr benannt ist denn auch der Saal, der an jenem Abend Ort eines Podiums mit dem Thema „Der Umgang von Museen und Stadt mit dem kolonialen Erbe“ ist, fachkundig moderiert von Manfred Loimeier, Mitglied der Chefredaktion des „Mannheimer Morgen“ und Professor für afrikanische Literatur an der Universität Heidelberg.
Denn auch Mannheim hat ein solch koloniales Erbe. In den Depots der Reiss-Engelhorn-Museen lagern „40 000 Güter mit kolonialem Kontext“, wie Sarah Nelly Friedland von den rem berichtet. Alleine fast 12 000 stammen aus Afrika, ganz kleine wie ganz große, Alltagsgegenstände und Ritualobjekte. In den Besitz des Museums gekommen vor allem vor dem Ersten Weltkrieg und in den 1920er Jahren – „gekauft, getauscht und auch geraubt“.
„Der Kauf mag legal gewesen sein, moralisch sieht das anders aus“, so Historiker Gißibl. Denn was ist das für eine Legalität, wenn Mannheim zwar für 15 000 Mark ein Objekt erwirbt, das jedoch 1897 geraubt wurde? Für die „Bumiller-Sammlung“ gilt dieser Befund zu 100 Prozent. Insofern sind schon Begrifflichkeiten Teil des Problems: „Sammeln ist positiv besetzt“, sagt er: „Es ist eine euphemistische Bemäntelung für gewaltsamen Erwerb.“
Was bedeutet es, wenn diese Objekte im Herkunftsland fehlen? Mit seiner Frage bringt Loimeier die Problematik auf den Punkt. „Es fehlt die Basis für die eigene Identität“, sagt Richard B. Tsogang Fossi von der TU Berlin. Ja, die Herkunftsgesellschaften haben bis heute noch nicht einmal einen Überblick darüber, was ihnen alles fehlt. „Es ist daher notwendig, sie aktiv anzusprechen.“
"Wir hatten blinden Fleck"
„In der Aufarbeitung dieses Themas hatten wir einen blinden Fleck“, bekennt Peter Kurz: „Aber damit stehen wir nicht allein“, sagt der Oberbürgermeister und erinnert, dass selbst in den Herkunftsländern etwa in Windhuk die Diskussion gerade erst läuft. Aber sie komme bei uns in Gang – mit der Änderung der nach Kolonialverbrechern benannten Straßennamen in Rheinau-Süd und der Debatte darüber, ob die Gedenktafel für Theodor Seitz in Seckenheim so bleiben kann wie sie ist.
Den „blinden Fleck“ sieht der Arbeitskreis Kolonialgeschichte jedoch noch weiter wirken. Margarete Würstlin nennt die aktuelle Ausstellung über „Belle Epoque in Mannheim“: „Da werden die bekannten Industriellen gefeiert.“ Symbolisch: Carl Reiß etwa ist mit einer Straußenfeder zu sehen. „Wie kam sie zu ihm? Dazu kein einziges Wort.“ Der Reichtum der Familien Reiß, Boehringer und Engelhorn basiere auf zweierlei: „der Mannheimer Arbeiterschaft und der Ausbeutung in den Kolonien“. Mit dem dadurch erworbenen Vermögen lasse es sich dann gut stiften, fügt sie bitter hinzu.
„Mannheim ist in dieser Aufarbeitung ein Nachzügler“, bestätigt Historiker Gißibl: „Berlin, Hamburg, Bremen, Leipzig und Köln sind da schon viel weiter.“ Das könne aber auch „ein strategischer Vorteil“ sein: „Wir können sehen, wie andere es machen.“ Gißibl schlägt einen Beirat aus Fachleuten und interessierten Vertretern der Zivilgesellschaft vor, „um die Arbeit nicht alleine Museum und Stadtarchiv zu überlassen“, aber auch, „um heilsamen Druck zur nötigen Aufarbeitung auszuüben“. Aber wie soll sie gehen? Als erstes: die Werke, die nur in Depots schlummern, „sichtbar machen“. Zunächst, indem man sie digitalisiert. Allerdings stößt dies an Grenzen, sagt Friedland: an personelle und damit finanzielle, rein technische, aber auch inhaltliche. Rituelle Kultgegenstände etwa können nicht einfach als Fotos ins Internet gestellt werden: „Sie sind den Menschen heilig.“
"Ich fühle mich selbst verantwortlich"
„Für uns ist diese Aufgabe einer der Schwerpunkte“, bekennt die rem-Vertreterin: „Wir sehen uns in der Verantwortung, ich selbst fühle mich verantwortlich.“ Allerdings sei das auch nur ein Bereich, für den die rem zuständig sind, bittet sie um Verständnis. Da hakt Peter Kurz ein: Dann gelte es, Prioritäten zu setzen, wenn die Stadtgesellschaft dies will.
Und wie sieht es mit der Rückgabe aus? „Jede Bevölkerung hat ein Recht auf ihr kulturelles Erbe“, sagt Fossi klipp und klar. „Das sind keine ,Objekte’, sondern Kulturträger“, meint auch Würstlin. Es sei doch ein Unding, dass die Menschen aus Namibia, Kamerun oder Togo Tausende von Kilometern reisen müssen, um sie zu sehen. Sogar dafür zahlen müssten, um Fotos davon zu nutzen, weil auf denen fremde Rechte liegen.
Es ist das Verdienst Würstlins, auf den Punkt zu bringen, worum es geht: „Das ist Raubgut oder zumindest Hehlerware“, betont sie: „Und der Dieb kann nicht entscheiden, was er zurückgibt und was nicht.“
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Warum Raubgut aus der Kolonialzeit zurückgegeben werden muss