Jugend in Corona

Mannheimer Jugendliche leiden immer stärker unter der Pandemie

Von 
Eva Baumgartner
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Viele Jugendliche kämpfen seit Monaten mit Problemen – immer mehr brauchen Hilfe. © istock

Mannheim. Nach über einem Jahr Corona-Pandemie geht es unseren Jugendlichen schlechter denn je: Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim berichtet von Depressionen, Angstzuständen und schweren Essstörungen, langen Wartelisten und einer Zunahme von Suizidversuchen. Junge Menschen und Eltern erzählen, wie es ihnen geht. 

Schon früh am Morgen startet Lea (Namen der Betroffenen haben wir geändert) die ersten Diskussionen: „Muss ich aufstehen? Es ist doch keine Schule“, versucht es die 14-Jährige an manchen Tagen. An anderen schiebt sie die Freunde vor, die „den ganzen Tag zocken dürfen, auch schon morgens“, um nicht aus dem Bett zu müssen. Mutter Birgit Leipold ist es leid: „Anfangs haben wir uns noch gesagt, wir bestimmen hier die Regeln, und um 8 Uhr beginnt bei uns das Homeschooling.“ Doch der Vorsatz ist leichter gesagt als getan.

Seit über einem Jahr herrscht in vielen Familien Corona-bedingt ein gereiztes Klima: Eltern und Kinder sitzen zuhause – die einen im Homeoffice, die anderen im Homeschooling. Auf oft engstem Raum und ohne eine Möglichkeit, sich aus dem Weg zu gehen. Viele haben die neue Herausforderung einer Pandemie motiviert angenommen: „Wir haben wirklich gedacht, wir schaffen das“, berichtet Birgit Leipold. „Aber es ist gar nicht so leicht, eine Teenagerin über Wochen motivierend zu begleiten.“ Inzwischen ist die Mutter mit ihren Kräften am Ende, weiß mitunter nicht mehr, was sie tun soll. Denn neben der Teenager-Tochter gibt es noch zwei jüngere Geschwister.

So viele schwere Essstörungen wie in diesem Frühjahr haben wir selten gesehen.
Yvonne Grimmer Oberärztin am ZI

In den vergangenen Wochen verschlechtert sich die Situation bei Familie Leipold dann weiter: „Das Leuchten in den Augen meiner Tochter ist erloschen, wann immer es geht, zieht sie sich in ihr abgedunkeltes Zimmer zurück und hört Musik. Oft erwische ich sie dabei, wie sie hemmungslos weint. Sie sagt, dass sie keinen Sinn in ihrem Leben sieht, dass Corona ihr die Jugend stiehlt, dass den Politikern egal ist, wie sich die Schüler fühlen.“ Jegliche Motivation, mal rauszugehen, die Sonne zu genießen, scheitern: „Was erwartet mich denn morgen?“, fragt Lea. „Ist doch eh nur wieder ein neuer Tag im Homeschooling.“

Lea und ihre Familie sind kein Einzelfall. Im Gegenteil. So viele Jugendliche wie nie zuvor leiden unter den psychischen Folgen der Pandemie. Das Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) schlägt deshalb Alarm: „Die zweite Corona-Welle hat uns so zugesetzt, dass die Warteliste im ambulanten Bereich explodiert ist“, sagt Yvonne Grimmer, Oberärztin am ZI. „Die Wartezeiten werden immer länger. Auch bei Psychotherapeuten gibt es kaum mehr Plätze, bei denen wir betroffene Jugendliche unterbringen können – bis August ist oft schon alles voll.“ Neben Depressionen und Angstzuständen haben – wie in vielen europäischen Ländern – vor allem schwere Essstörungen bei den Jugendlichen enorm zugenommen.

Gerade junge und sehr kontrollierte Mädchen seien von Magersucht betroffen: „Weil durch Corona das ganze Umfeld, alles unkontrollierbar erscheint, suchen sich diese jungen Menschen das Essen, weil sie das noch kontrollieren können“, beschreibt die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie: „So viele schwere Essstörungen wie in diesem Frühjahr haben wir selten gesehen.“ In der Altersgruppe der 15- bis 18-Jährigen, so Grimmer, gibt es zudem eine Zunahme an Suizidversuchen.

Wo finden Kinder, Jugendliche und Erwachsene Hilfe?

  • Yvonne Grimmer, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI), empfiehlt bei niederschwelligen Problemen eine psychologische Beratungsstelle. Bei schwereren Problemen, längerfristigen Ängsten, gedrückter Stimmung oder Essstörungen sollten Kinderarzt oder Hausarzt informiert werden, die gegebenenfalls eine Überweisung zum Kinderpsychiater ausstellen. „Auch die Krisensprechstunde am ZI ist in solchen Fällen eine Möglichkeit“, sagt Grimmer. Bei lebensmüden Gedanken ist jederzeit eine Notfallvorstellung im ZI möglich: Jugendliche können sich im Notfall auch allein vorstellen.
  • Krisenambulanz des ZI: Telefon 0621/1703-2850 (Telefonservice der Zentralambulanz), E-Mail: zentralambulanz@zi-mannheim.de (Zuweisung durch Kinderarzt oder Hausarzt erforderlich).
  • Psychologische Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der Stadt Mannheim: Informationen und Adressen im Internet unter www.pb-mannheim.de
  • Psychologische Beratungsstelle des Caritasverbandes: Telefon 0621/1 25 06-0 (Mo-Fr 9-12 Uhr, Mo-Mi 13-16 Uhr, Do 13-17 Uhr, Fr 13-15 Uhr) oder E-Mail: erziehungsberatung@caritas-mannheim.de
  • Psychologische Beratungsstelle der Evangelischen Kirche Mannheim: Telefon 0621/28000-280, Informationen im Internet unter www.ekma.de/Psychologische_Beratungsstelle
  • Ehe-, Familien- und Lebensberatung Mannheim der Kath. Gesamtkirchengemeinde Mannheim: Informationen und Kontakt im Internet unter www.eheberatung- mannheim.de.
  • Schulpsychologische Beratungsstelle Mannheim: Telefon: 0621/292-4190, Beratungslehrer können an jeder Schule über das Sekretariat erfragt werden. baum

Grimmer und ihre Kolleginnen und Kollegen sind selbst am Limit: „Wir haben so viele Jugendliche hier, denen es richtig schlecht geht. Wir sind es gewöhnt zuzuhören, aber uns fehlt das Werkzeug, wir können sie nicht mit positiven Erlebnissen aktivieren. Jugendlichen geht die Selbstwirksamkeit verloren, die sie zum Wohlbefinden brauchen, zu sehen, dass ihr Tun einen Effekt hat.“ Das ZI müsse mehr medikamentös behandeln, mehr Krisenintervention leisten: „Die Stationen sind immer wieder überbelegt“, sagt Grimmer. Und es habe viele Tage gegeben, an denen die Mitarbeiter des ZI triagieren mussten – also entscheiden, in welcher Reihenfolge die Jugendlichen behandelt werden.

Vor vier Wochen hat deshalb am ZI auch eine Krisenambulanz eröffnet: „So können wir akut gefährdete Jugendliche schneller persönlich sehen, das geschah aus der Not heraus, wir wussten nicht mehr, wie wir alle Patienten behandeln sollten bei der langen Warteliste. So haben wir eine Chance, die schwer betroffenen Fälle rauszufiltern und schnell zu handeln.“

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Bei manchen münden die Probleme auch in Kriminalität, wie zuletzt in der Gartenstadt. Brennende Mülltonnen, Eier oder Steine, die gegen Hauswände geworfen werden: Die Polizei bestätigt, dass in all diesen sieben Fällen jugendliche Täter am Werk waren: „Für die hier erwähnten Straftaten wurden Tatverdächtige ermittelt. Es handelt sich um insgesamt acht Jugendliche im Alter von 15 bis 18 Jahren, einen Heranwachsender im Alter von 20 Jahren und zwei strafunmündige Kinder.“

Ein geregelter Tagesrhythmus fehlt vielen Kindern und Jugendlichen, Schulbesuche hätten möglicherweise einige Probleme auffangen können, sagt Grimmer. Doch auch Lehrkräfte hatten keinen leichten Stand: „Wöchentlich mussten neue Konzepte entwickelt werden, dann wurde wieder dichtgemacht. Ich habe in meinem Beruf das Kindes- und Jugendwohl im Blick, und da sollten Schulschließungen der letzte Hebel sein“, sagt Grimmer.

Die Oberärztin kennt Kinder, die seit einem Jahr nicht mehr in der Schule waren. „Die Zahl der Schulabbrecher war schon letztes Jahr doppelt so hoch, auch dieses Jahr wird das erwartet“, berichtet Grimmer. „Und das tut mir leid, denn in manchen Familien hätte mal ein Jugendlicher die Chance gehabt, als Einziger einen Schulabschluss zu schaffen. Diese Chance ist bei vielen vorbei. Das ist ein Knick in so vielen Lebenswegen. “

Redaktion Eva Baumgartner gehört zur Lokalredaktion Mannheim.

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