Mannheim/Czernowitz. Das Gefühl, wegen Luftalarm einen Schutzkeller aufsuchen zu müssen, ist hierzulande - glücklicherweise - vielen nicht geläufig. Es fällt also schwer, sich nur ansatzweise das vorzustellen, was Menschen in solchen Momenten erleben. Was sie spüren. Ja, was sie ertragen. Im Grunde genommen kann man sich das auch gar nicht vorstellen.
Und so kann auch Peter Kurz nur erahnen, wie es ist, im Ernstfall in einem Keller ausharren zu müssen. Mannheims Oberbürgermeister musste bei seinem Besuch in Czernowitz den Raum unter einer Schule nicht wegen Luftalarm aufsuchen, sondern besichtigte ihn freiwillig. Dennoch habe er die Situation als „sehr eindrücklich“ empfunden, erklärt er am Dienstag bei der Pressekonferenz mit seinem Amtskollegen Roman Klichuk. „Wenn man die kleinen Stühle sieht, wird einem nochmal in besonderer Weise bewusst, dass Kinder hier möglicherweise über Stunden in extrem beengten Verhältnissen Schutz suchen“, sagt er. „Der Versuch, den Keller farblich schön zu gestalten, kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie schwierig es ist, sich eine solche Situation vorzustellen.“
Die einprägsamen Schilderungen des Oberbürgermeisters bleiben sicherlich auch jenen ukrainischen Journalisten und Journalistinnen im Gedächtnis, die sich am Morgen im Presseraum in Czernowitz versammelt haben. Aus Deutschland ist die Presse online zugeschaltet. Der Aufwand übersteigt wohl den für eine übliche Pressekonferenz zweier Kommunalpolitiker - es ist aber schließlich ein historisches Ereignis: Nachdem die Städte 2022 ihre Partnerschaft offiziell besiegelt haben, ist es der erste Besuch des Oberbürgermeisters im westukrainischen Czernowitz, das seit Beginn des Kriegs ein Zentrum der Binnenflucht ist.
Im vergangenen Jahr hatten unter anderem Stadtrat Markus Sprengler (Grüne) und David Linse, Fachbereichsleiter Internationales, Czernowitz besucht. Linse ist auch nun Teil der Delegation des Oberbürgermeisters, der einer Einladung Klichuk gefolgt ist, wie er erklärt.
Zehntausende Binnenvertriebene in der Stadt
Mehr als eine Stunde lang sprechen Kurz und Klichuk vor der Presse. Es gibt viele Themen, über die sie sich seit Kurz’ Ankunft am Sonntag ausgetauscht haben - auch über die Hilfen, die Mannheim seit Kriegsbeginn leistet. „Tausende Tonnen“ an Gütern hätten seine Stadt erreicht, sagt Klichuk. Neben technischen Geräten - etwa Generatoren - hat Mannheim auch Lebensmittel und Materialien für Schulen gespendet. Erst im März war der fünfte Hilfstransport nach Czernowitz gefahren. Klichuk bedankt sich für die „großartige Unterstützung“, die Unterbringung Tausender Geflüchteter und das „große Herz“, das die Mannheimerinnen und Mannheimer zeigten. „Einen treuen Freund findet man in schweren Zeiten.“
Kurz spricht von „intensiven Gesprächen“ mit Klichuk, aber auch mit Vertreterinnen und Vertretern von Hochschulen, sozialen Einrichtungen und Wirtschaft. Mit seinem Amtskollegen habe er Blumen an der Wand gegenüber des Rathauses niedergelegt, an der Bilder der Menschen aus Czernowitz hängen, die im Krieg gefallen sind. Auch wenn es noch keine Kämpfe in Czernowitz selbst gegeben hat - „der Krieg ist allgegenwärtig und präsent“, sagt Kurz und berichtet vom Waisenhaus oder von Schulen, an der geflüchtete Kinder lernen.
Nicht zuletzt sind auch die mehr als 40 000 Binnenvertriebenen, die laut Klichuk in der Stadt sind, Zeugen des Kriegs. Vor dem russischen Überfall lebten etwas mehr als 250 000 Menschen in Czernowitz. „Die Flüchtlinge bleiben hier, weil sie nicht in ihre Heimatregionen zurückkehren können“, sagt Klichuk. „Dort ist alles zerstört.“ Zwar gebe es kommunale, kirchliche und private Einrichtungen. Klichuk aber berichtet auch von Kapazitätsgrenzen, an die die Stadt bei der Unterbringung der Vertriebenen stoße.
Planungen für die Nachkriegszeit
Auf der einen Seite ist der Krieg allgegenwärtig, auf der anderen Seite ist die Nachkriegszeit bereits präsent. Natürlich: Niemand weiß, wie die aussehen mag, geschweige denn, wann sie beginnt. Angesichts der Nachrichtenlage steht zu befürchten, dass sie eher ferne Zukunft als baldige Gewissheit ist.
Mannheims Oberbürgermeister aber sei während seines Aufenthalts in Czernowitz auch Hoffnung begegnet. Er sei „beeindruckt“, wie die Stadt über den Krieg hinausdenke und die Zukunft gestalte. Während seines Aufenthalts habe er eine Ausstellung besucht, die sich um die Neugestaltung des zentralen Platzes in Czernowitz dreht, und ein Theaterraum sei eingeweiht worden.
Fortschrittliche Digitalisierung
Nachkriegszeit: Spätestens dann will die Ukraine der Europäischen Union beitreten. Seit Juni ist das Land Beitrittskandidat - wann sie dem Verbund aber tatsächlich beitreten kann, ist offen. Wie in der Vergangenheit betont Kurz, dass Städtepartnerschaften, etwa bei der Stärkung der Kommunen, „einen wesentlichen Beitrag“ bei nötigen Reformen leisten könnten. „Es gibt den großen Wunsch, unsere Partnerschaft über die Zeit des Kriegs zu vertiefen und gemeinsam eine europäische Zukunft in Freiheit zu bauen.“
Dass Czernowitz in der Kriegszeit von Mannheim profitiert, ist kaum verwunderlich. Wie kann das aber die deutsche Seite? In vielen Bereichen, etwa im öffentlichen Dienst, liege die Ukraine in der Digitalisierung „deutlich vor Deutschland“, so Kurz. Das zeige sich auch daran, dass viele Jugendliche von Deutschland aus online weiter am Unterricht in der Ukraine teilnehmen. So könne man sich in Deutschland bei der Digitalisierung vieles von ukrainischen Partnern abschauen. Zudem könnten beide voneinander lernen, etwa im Rahmen von Austauschprogrammen oder bei der Stadtgestaltung, „wo wir ganz ähnliche Themen haben“, erklärt Kurz.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Der Besuch von Mannheims OB Kurz in Czernowitz hat viel Symbolik