Mannheim. Mara ist 17 Jahre alt und ziemlich gefrustet. Ihr Freund hat sie gerade verlassen, und nun sitzt sie alleine zuhause. Ihre Familie ist in Urlaub, es ist Sommer - für ein junges Mädchen kann es kaum schlechter laufen. Ihre Gedanken spinnen sich Stück für Stück fort, enden aber doch immer wieder bei der Sehnsucht nach ihrer großen Liebe.
Konzentrierte Arbeit
Henner Kallmeyer stellt bei seiner Antrittslesung als neuer Feuergriffel im Campuspavillon auf dem Spinelli-Gelände der Bundesgartenschau (Buga) die ersten Seiten aus seinem Mannheim-Buch vor. Als Stadtschreiber für Kinder- und Jugendliteratur ist er vor wenigen Tagen in den Turm der Alten Feuerwache gezogen, um drei Monate konzentriert an seiner Roman-Idee „Mein Sommer am Volksempfänger“ zu arbeiten. Darin dreht sich alles um die 17-jährige Mara, die durch einen Riss in der Zeit plötzlich im Jahr 1938 landet.
Die 19-jährige Ceyda Özcelik vom Jungen Nationaltheater Mannheim ist im Holz-Pavillon auf der Buga die perfekte Wahl, um die Rolle der jungen und gewitzten Mara zu übernehmen. Wenn sie über ihren Verflossenen schimpft, dann wieder ins Schwärmen gerät, wenn sie an seine braunen Augen denkt, sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus. „Augen wie glatt geschälte Kastanien, wenn man sie aus der Schale pellt“ - Henner Kallmeyer, der bei der Lesung den Part des guten Kumpels der plappernden Mara übernimmt, kann angesichts der geballt-romantischen Wort-Lawine hier nur mit stakkato-artigen Einwürfen reagieren. Bis es zu einem Stromausfall kommt und Mara einen großen Riss in der Wand findet.
Feuergriffel Henner Kallmeyer
- Der Feuergriffel ist das Mannheimer Stadtschreiber-Stipendium für Kinder- und Jugendliteratur und wird alle zwei Jahre von der Stadtbibliothek ausgeschrieben.
- Das Förderprogramm war lange Zeit einmalig in Deutschland. Es wird durch die GBG, die Karin und Carl-Heinrich Esser Stiftung, das Kulturzentrum Alte Feuerwache und den Förderkreis der Stadtbibliothek gefördert. Der Preis beinhaltet einen dreimonatigen Aufenthalt im Turm der Alten Feuerwache, eine Pauschale für Anreise und Lebenshaltungskosten in Höhe von 3000 Euro, 3000 Euro Preisgeld sowie 3000 Euro bei Veröffentlichung des Buches.
- Bisherige Feuergriffel-Preisträger waren Tamara Bach (2007), Antje Wagner (2009), Rike Reiniger (2011), Sasa Stanisic (2013), Tobias Steinfeld (2015), Florian Wacker (2017), Tania Witte (2019) und Julia Willmann (2021).
- Henner Kallmeyer lebt seit 2008 in Essen. Der 49-Jährige begann seine Theaterlaufbahn am Schauspielhaus Bochum. Seit 2002 ist er freischaffender Theaterregisseur und inszenierte beispielsweise am Staatstheater Hannover, Schauspielhaus Bochum, Theater Bielefeld, Grillo Theater Essen, Staatstheater Stuttgart und an den Wuppertaler Bühnen. Er unterrichtet in der Sparte „Musical“ an der Folkwang Universität der Künste in Essen.
Lust auf mehr
Was die Gäste der Lesung an diesem Abend erfahren, macht Lust auf mehr. Freilich, der Nationalsozialismus ist für einen Jugendroman keine einfache Kost, doch er ist spannend verpackt. Es gibt keinen erhobenen Zeigefinger, keine Flut von Zahlen und Fakten. Doch das ist auch gar nicht nötig. Mit dem Hintergrundwissen über die sechs Millionen ermordeten Juden entfalten selbst die ersten Seiten ihre Wirkung im Hinterkopf.
Kallmeyer will während seiner Zeit in der Quadratestadt ganz bewusst keinen historischen Roman verfassen, den jungen Menschen „keine Predigt halten“. Ihm geht es vielmehr um die Frage der Verantwortung. Und darum, wie sehr das eigene Leben im Grunde nur eine Fortsetzung des Lebens der vorangegangenen Generation ist. Ceyda Özcelik fasst diesen Punkt in einem treffenden Satz zusammen, bezeichnet das Leben einer Generation als „Komma in der Geschichte“, einen wiederkehrenden Teil in einer Reihe von Fortsetzungen.
Weil das Feuergriffel-Buch noch am Anfang steht, lesen Kallmeyer und Özcelik auf der Buga anschließend aus zwei Theaterstücken des Stadtschreibers, der in Mannheim seinen ersten Prosa-Text verfasst. Auch der Auszug aus „Troja“ beschäftigt sich mit der Vergangenheit: Hier treffen sich zwei Kinder im trojanischen Pferd - ein kampfwilliges Mädchen und ein Junge, der hofft, dass der Krieg endlich vorbei ist. Das schnelle Tempo baut enorme Spannung auf. Der dritte Teil der Lesung mit einem Auszug aus Kallmeyers „Abenteuer des Odysseus“ blickt ebenfalls zurück: Der Theaterregisseur macht darin den Mythos lebendig, indem er ein junges Mädchen am Strand spazieren schickt. Es findet einen Obdachlosen, der sich als Odysseus entpuppt.
Erinnerung wach halten
Die Texte von Kallmeyer treffen an diesem Abend nicht nur die Zuhörerinnen und Zuhörer, sondern auch Yilmaz Holtz-Ersahin „mitten ins Herz“: „Sie sammeln Erinnerungen, die nicht begraben, sondern wachgehalten werden, die an das kulturelle Gedächtnis weitergegeben werden“, lobt der Leiter der Mannheimer Stadtbibliothek den neuen Feuergriffel. Und der findet, dass die Buga-Fläche als ehemalige Militärfläche nicht nur beim Punkt Erinnerungskultur ideal zur Antrittslesung passt: „Was hier an Geschichte gerade atmet, ist ganz unglaublich“, sagt Kallmeyer. Holtz-Ersahin findet einen weiteren Zusammenhang: „Wir sind nicht nur hier, weil wir in Mannheim die Buga haben. Wir drücken damit auch unsere Sehnsucht aus, dass wir in einigen Jahren in unserer neuen Stadtbibliothek im Dachgarten sitzen und lesen“, erinnert er an die Neubau-Pläne für die Stadtbibliothek.
Treffen mit der Urgroßmutter
Auch wenn an diesem kalten Abend keine Buga-Besucher spontan am Pavillon Halt machen, um zuzuhören und ohnehin nur noch wenige Gäste auf dem Gelände unterwegs sind: Die Mannheimer dürfen gespannt sein, was der neunte Stadtschreiber während der kommenden drei Monate aus seinem Manuskript macht: Was die 17-jährige Mara im Jahr 1938 erlebt, als sie ihre Urgroßmutter trifft, die damals genauso alt ist wie das Mädchen heute. Nicht nur in dieser spannend-witzigen Roman-Version ist das Erinnern an die schreckliche Zeit des Nationalsozialismus wichtiger denn je. Das findet auch Ceyda Özcelik: „Die Geschichte dieses Landes beeinflusst auch mich noch immer und wie ich in Deutschland gesehen werde.“
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