Stadtschreiber-Stipendium

Was der Mannheimer Feuergriffel Henner Kallmeyer plant

Henner Kallmeyer ist als Mannheimer Stadtschreiber für Kinder- und Jugendliteratur in die Alte Feuerwache gezogen. Was er sich für sein Feuergriffel-Buch vorgenommen hat und warum Deutschland eine besondere Verantwortung hat

Von 
Eva Baumgartner
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Henner Kallmeyer schreibt seine Ideen erst handschriftlich in ein großes Notizbuch, dann überträgt er alles in den Computer. © Manfred Rinderspacher

Mannheim. An die 68 Stufen, die von der obersten Fahrstuhl-Station zur Turmwohnung in der Alten Feuerwache führen, hat sich Henner Kallmeyer längst gewöhnt. Er ist vor einer Woche als neuer Mannheimer Feuergriffel in das Zimmer über den Dächern der Quadratestadt gezogen - und genießt den Ausblick auf die Kurpfalzbrücke und den neuen Messplatz: „Es gibt hier wirklich viele Dinge zu entdecken.“

Drei Monate verbringt der Stadtschreiber-Stipendiat für Kinder- und Jugendliteratur in dem besonderen Zimmer mit Rundum-Blick, arbeitet an seiner Roman-Idee „Mein Sommer am Volksempfänger“. Und schon nach wenigen Tagen zeugen die vielen Bücher und Hefte von jeder Menge Arbeit: Auf dem Schreibtisch liegt Literatur zum Nationalsozialismus - der Recherche-Aufwand ist groß: „Man weiß ja schon viel über die Zeit, aber ich muss noch deutlich mehr wissen, dann fällt es mir leichter“, erklärt er.

Historischer Rollentausch

Der Theaterregisseur aus Essen möchte den Alltag im Nationalsozialismus mit einem Rollentausch aufarbeiten, schickt seine junge Protagonistin Mara durch einen Riss in der Zeit ins Jahr 1938. Dort lernt das Mädchen ihre Urgroßmutter kennen, die damals genauso alt ist wie Mara heute. Kallmeyer hat schon einige große Notizbücher mit seinen Ideen und Texten gefüllt - mit einem Füller, den er mit blauer Tinte aus einem Fässchen füllt. Erst später überträgt er alles in den Laptop.

Raus aus dem Alltag

Der 49-Jährige ist dankbar für die Zeit, die er seinem Buch widmen kann. „Man hat hier wirklich Zeit für sich selbst, Zeit zu schreiben.“ Im Alltag gehe es ihm schließlich wie vielen Autoren: „Das Schreiben muss man oft dazwischen schieben, aber hier gibt es keine Ausrede, das ist wirklich ungewohnt“, lacht er. Trotzdem nimmt er sich die Zeit, Mannheim zu erkunden, lobt die vielen Radwege: „Im Gegensatz zu Essen ist das hier eine echte Fahrradstadt.“ Im Marchivum und auf dem Hauptfriedhof hat er sich schon umgesehen - und Überraschendes entdeckt: dass hier nämlich der Dichter August von Kotzebue unweit von Carl Ludwig Sand begraben ist. „Das ist wirklich besonders, Kotzebue liegt nur wenige Meter von seinem Mörder entfernt.“

Das Mannheimer Stadtschreiber-Stipendium Feuergriffel

  • Der Feuergriffel ist das Mannheimer Stadtschreiber-Stipendium für Kinder- und Jugendliteratur und wird alle zwei Jahre von der Stadtbibliothek ausgeschrieben.
  • Das Förderprogramm entstand bei den Planungen für das Mannheimer Stadtjubiläum 2007 und war lange Zeit einmalig in Deutschland. Es wird aktuell durch die GBG, die Karin und Carl-Heinrich Esser Stiftung, das Kulturzentrum Alte Feuerwache und den Förderkreis der Stadtbibliothek gefördert.
  • Der Preis beinhaltet einen dreimonatigen Aufenthalt im Turm der Alten Feuerwache, eine Pauschale für Anreise und Lebenshaltungskosten in Höhe von 3000 Euro, 3000 Euro Preisgeld sowie 3000 Euro bei Veröffentlichung des Mannheim-Buches.
  • Bisherige Preisträger waren Tamara Bach (2007), Antje Wagner (2009), Rike Reiniger (2011), Sasa Stanisic (2013), Tobias Steinfeld (2015), Florian Wacker (2017), Tania Witte (2019) und Julia Willmann (2021). Für den Feuergriffel 2023 standen nach der Erst-Auswahl drei Kandidaten in der Endrunde. Henner Kallmeyer setzte sich hier gegen die Mit-Nominierten Katja Hensel und Jan Wehn durch.
  • Kallmeyer, Jahrgang 1974, ist gebürtiger Lübecker und lebt seit 2008 in Essen. Als freischaffender Theaterregisseur inszenierte er beispielsweise am Staatstheater Hannover und Stuttgart, am Grillo Theater Essen oder an den Wuppertaler Bühnen

 

Kallmeyer bezeichnet sich als Nachwuchs-Autor, hat bisher ausschließlich Theaterstücke geschrieben: „Das ist tatsächlich einfacher, ich stelle mir einfach die Schauspieler vor. Aber für ein Buch braucht man einen längeren Atem, ich muss die Figuren erst entwickeln.“ Ein Theaterstück ist übrigens auch die Keimzelle für sein Feuergriffel-Buch: Kallmeyer hat bereits ein Stück über ein Mädchen aufgeschrieben, das seine Urgroßmutter kennenlernt. „Es geht darum, wie es ist, in einer Diktatur jung zu sein.“ Das Buch soll nun die Geschichte weitererzählen.

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Das Blättern durch ein Fotoalbum seiner Eltern brachte den Regisseur dazu, über den Nationalsozialismus zu schreiben: „In dem Album fehlten Fotos. Die hat mein Vater rausgenommen, weil die abgebildeten Menschen Nazi-Insignien trugen.“ Er selbst will kein Buch zuschlagen, keine Bilder auslöschen. Freilich, Zeitzeugenberichte gebe es jede Menge: „Doch darin geht es meist um Schuld, ich möchte jedoch den Alltag zeigen, der damals herrschte.“ Dabei dränge die Zeit: „Mein Vater geht auf die 90 zu, man merkt einfach, dass die letzten Zeitzeugen verschwinden.“ Er nutzt auch in Mannheim jede Gelegenheit, seinen Vater nach Kleinigkeiten zu fragen: „Welche Unterwäsche er damals getragen hat oder was Kinder zum Schlafen anhatten.“

Für sein Buch ist Henner Kallmeyer eines besonders wichtig: „Hinter allem steht die Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden, das dürfen wir nicht vergessen, das ist nicht verhandelbar, das habe ich bei jeder Zeile im Hinterkopf. Der Respekt, die Unfassbarkeit und die Trauer müssen lebendig bleiben.“ Kritik übt er an vielen Darstellungen im Fernsehen: „Da sind wir alle die Nachfolge-Generation von Sophie Scholl oder Anne Frank. Aber Fakt ist doch, dass die meisten von uns Nachfolger von Menschen sind, die das alles damals mitgetragen haben.“ Für ihn geht es um den Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung. Zu schnell, sagt er, gehen Erinnerungen aus der damaligen Zeit verloren. „Es gab immer Dinge, die man als Deutsche nicht gemacht hat, man war immer gegen den Krieg, doch das lässt nach. Aber wir in Deutschland sind kein normales Land.“

Keine Museumsführung

Schwere Kost möchte der neue Feuergriffel seinen jungen Leserinnen und Lesern aber nicht servieren, das Ganze vielmehr spannend und auch lustig verpacken. „Ein bisschen Action ist schließlich nötig, um die Leute zu packen.“ Der Nationalsozialismus sei zwar stets im Hintergrund: „Aber das Buch soll keine Museumsführung werden, sondern auch zum Nachdenken anregen.“

Für sein Stipendium hat Henner Kallmeyer alle Theater-Termine abgesagt und Termine an Kollegen vergeben: „Ich möchte mich voll auf das Buch konzentrieren.“

Redaktion Eva Baumgartner gehört zur Lokalredaktion Mannheim.

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