Mannheim. Das Zitat von Gena Zarnikow drückt bis heute die Fassungslosigkeit der ganzen Welt nach dem 24. Februar 2022 aus. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Putin Flugzeuge losschickt, die einen Bombenteppich über die Ukraine legen. Das wäre, wie wenn die USA Kanada angreifen würden“, war sich Zarnikow wie so viele noch wenige Tage vor dem Angriff sicher.
In den ersten Monaten hatte er sogar „Angst, dass die Atomwaffen fliegen“. Die hat sich gelegt, dennoch glaubt der Unternehmensberater, dass der Krieg noch lange dauern kann. „Mein kleiner Sohn ist jetzt zwei Jahre alt. Wenn er in die Schule kommt, wird er mit ukrainischen Kindern in einer Klasse sein. Da habe ich Angst, dass es zu Konflikten kommt.“
Zarnikows Befürchtungen kommen nicht von ungefähr. „In meiner Schulzeit hat es auch gebrodelt, weil damals Serben, Kroaten und Bosniaken zusammensaßen, während auf dem Balkan der Krieg tobte. Da hat es richtigen Hass gegeben“, erzählt der 39-Jährige, der 1991 mit seinen Eltern von Moskau nach Deutschland kam. „Das wünsche ich meinem Sohn nicht.“
„Man spricht lieber über Fußball“
Nachdenklich gemacht hat Zarnikow ein Erlebnis, das er kürzlich auf dem Spielplatz hatte. „Mein Sohn wollte auf die Schaukel, es waren aber schon zwei kleine Jungs drauf. Die haben Russisch gesprochen. Ich dachte deshalb, sie seien Ukrainer und habe auf Russisch ,Danke’ gesagt, als sie meinen Sohn vorließen. Die Kinder fragten mich, ob wir Ukrainer sind. Ich habe das verneint und gesagt, dass ich schon lange in Deutschland leben würde. Sie sind dann sofort gegangen. Ich hatte das Gefühl, dass sie Angst vor mir hatten. Das fand ich total krass.“
Abgesehen von dieser Geschichte hat Zarnikow, der einen deutschen Pass hat, seit Kriegsbeginn keine Ressentiments gespürt. Auch nicht bei der Arbeit. „Aber da spricht man ja in der Regel nicht über Politik, sondern über Fußball oder das Wetter.“ Selbst im Gespräch mit zwei Russlanddeutschen bleibt der Ukraine-Krieg tabu. „Das läuft dann eher auf der Ebene ab, dass man sich seine Verwandtschaft nicht aussuchen kann.“ Anders sei es nur bei den polnischen Kollegen. „Die haben mich gefragt, ob ich auf der richtigen Seite stehe. Aber das fand ich nicht unangenehm.“
„Der Krieg steht zwischen uns“
Zarnikows Familie hat auch noch Kontakte nach Russland. „Meine Mutter hat eine Freundin, der Mann ihrer Tochter hat einen Einberufungsbescheid bekommen und ist dann geflohen.“ Kriegsbegeisterung hört sich anders an. „Und der Sohn einer anderen Freundin hat sich von seinem Arbeitgeber freistellen lassen. Der hat vorher noch groß gejubelt.“
Vielleicht würde ich auch meinen Mund halten, wenn ich noch in Russland leben würde
Aber: „Ich verstehe nicht, warum die Menschen in Russland nicht einen Hass auf die Regierung bekommen, weil die Armee in diesem Krieg doch so versagt.“ Offensichtlich wollten die Menschen ihre Ruhe haben. „Vielleicht würde ich auch meinen Mund halten, wenn ich noch in Russland leben würde.“
Andrey Luzhbin (44) spürt auch nach einem Jahr diese innere Zerrissenheit, die nicht vorbeigehen will. Warum, ist klar: „Die Welt ist nicht mehr so, wie sie war, und sie wird nie mehr so wie vorher werden.“ Die Beziehungen zu den Ukrainern, die er kennt, haben unter dem Krieg natürlich gelitten. „Wir können uns zwar in der Kirchengemeinde in die Augen schauen, aber der Krieg steht zwischen uns, obwohl ich ja nicht für Putin bin“, sagt er. Wir telefonieren, während er mit seinen drei kleinen Kindern im Wald spaziert. „Ich lebe seit mehr als 20 Jahren hier, bin Deutscher und habe mit Russland nichts mehr zu tun.“
Es ist die Aufgabe der Politiker, dass sie verhandeln. Und wenn es ein halbes Jahr dauert
Andrey Luzhbin kennt aber auch noch Freunde von früher, die auf der russischen und der ukrainischen Seite kämpfen. „Manche sind gefallen.“ Auch deshalb würde er es besser finden, wenn die Kriegsparteien sich an einen Tisch setzen würden. „Es ist die Aufgabe der Politiker, dass sie verhandeln. Und wenn es ein halbes Jahr dauert“, sagt er und erklärt auch warum. „Der Krieg wird sonst noch sehr lange dauern, denn ich glaube nicht, dass Russland militärisch besiegt werden kann.“
Auch nicht mit den Panzern, die Deutschland der Ukraine liefert? „Das schlachtet Russland doch nur für die eigene Propaganda aus. Die ständigen Vergleiche mit dem Zweiten Weltkrieg sprechen ja für sich.“ Luzhbin, der nach eigenen Angaben auch eine militärische Grundausbildung hat, glaubt zwar, dass der Krieg durch den Einsatz der Panzer verlängert wird. Aber die Lieferzahlen seien nur ein Tropfen auf den heißen Stein. „Putin ist dagegen alles zuzutrauen, ich will keine Raketen auf Lampertheim oder Mannheim.“
„Alle haben Angst“
Den Schmerz der Ukrainer kann Andrey Luzhbin nach vielen persönlichen Gesprächen mitfühlen. „Ich glaube, dass die Mehrheit der Russen gegen diesen Krieg ist.“ Auch im Beruf spürt er die Folgen des Konflikts. „Ich arbeite bei einem Energieversorger. Da sehe ich ja, wie die Menschen unter den hohen Gas- und Strompreisen leiden und viele ihre Rechnungen nicht bezahlen können“, sagt er.
Mikhail Rozhkov fühlt sich auch nach einem Jahr noch angeschlagen. „Am Anfang war ich depressiv, das war alles verletzend, ich bin schwer aus dem Loch herausgekommen. Aber irgendwie gewöhnt man sich an alles“, sagt der 35-jährige Russe. Mit seiner Ehefrau redet er natürlich viel über den Krieg. Sie ist Ukrainerin. Gibt es da verschiedene Ansichten? „Überhaupt nicht, wir sind natürlich beide gegen den Krieg“, sagt Rozhkov, der in der IT-Branche arbeitet.
Die Eltern seiner Frau leben in Lemberg, ihr Bruder in der Nähe von Kiew. „Ich habe noch viele Freunde in Russland, obwohl ich mit meinen Eltern und meiner Schwester schon vor 20 Jahren nach Deutschland gekommen bin. Die wollen jetzt erst recht nicht zurück nach Russland.“ Die meisten Russen, mit denen er gesprochen hat, halten Putins Krieg für „kompletten Wahnsinn“. Sie hätten gar nicht geglaubt, dass es überhaupt zum Krieg kommen würde. „Jetzt haben sie Angst.“ Die Umfragen, wonach 70 bis 80 Prozent der Russen den Krieg unterstützen würden, seien unseriös. „Die wurden ja im Auftrag des Kreml durchgeführt oder bezahlt.“ Natürlich gebe es noch Russen, die hinter Putin stehen würden.
Die „Marke Russland“ ist zerstört
Er selbst glaubt nicht, dass Putin in dem Krieg noch einlenken kann. „Er wird die Soldaten bis zum bitteren Ende kämpfen lassen. Putin kann nicht einmal zurücktreten, weil er das wahrscheinlich gar nicht überleben würde.“ Dass Rozhkov selbst bisher keine Ressentiments erleben musste, freut ihn. Er hatte eigentlich Schlimmeres erwartet. „Ganz im Gegenteil, ich wurde sogar von Leuten gefragt, wie es mir geht.“ Im Internet seien die Posts gegen Russen dagegen teilweise sehr verletzend.
Rozhkov befürchtet, dass das Putin-Regime noch brutaler herrschen wird. „Die Menschen gehen aus Furcht gar nicht mehr auf die Straße.“ Putin habe „die Marke Russland“ zerstört. „Vor ein paar Jahren habe ich mich noch gefreut, dass ich für wenig Geld nach Sankt Petersburg fliegen kann, aber was soll ich jetzt dort?“ Die meisten Kritiker seien ausgereist, würden wie Alexei Nawalny im Gefängnis sitzen oder sich im Untergrund verstecken. Eine trostlose Lage. Dass die Elite gegen Putin putscht, kann sich der 35-Jährige nicht vorstellen. „Die haben auch alle Angst. Die Elite hat doch nicht gedacht, dass Putin den Krieg anfängt. Jetzt können ihre Kinder nicht mehr im Ausland studieren, und mit den Reisen ins schöne Baden-Baden ist es auch vorbei.“ Es gibt in Russland für keinen mehr etwas zu feiern.
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