Herr Bokanov, beten Sie als Priester nach einem Jahr Krieg für den Frieden oder für mehr Waffen?
Petro Bokanov: Natürlich bete ich immer für den Frieden. Ein Priester darf auch nicht für Waffen beten. Das wäre ja eine Sünde. Aber klar ist auch: Je mehr Waffen wir vom Westen für unsere Verteidigung bekommen, desto schneller wird es Frieden geben. Denn Russland wird uns nicht in Ruhe lassen. Auch die anderen Nachbarn sollten sich nicht sicher fühlen. Das habe ich Ihnen schon vor einem Jahr gesagt. Wenn wir diesen Aggressor in der Ukraine nicht stoppen, sucht er sich woanders ein neues Opfer.
Meinen Sie jetzt Polen?
Bokanov: Polen oder die Staaten im Baltikum. Es gibt ja inzwischen auch Russen, die T-Shirts tragen mit der Aufschrift: „Auf nach Berlin.“
Sie glauben jetzt aber nicht im Ernst, dass Putin Deutschland angreifen wird?
Bokanov: Nein, aber das ist ja auch ein Indiz dafür, wie groß der Imperialismus in Russland ist. Das mag sich jetzt pathetisch anhören, aber: Die Ukraine kämpft für Europa, ja für den Rest der Welt.
Petro Bokanov
- Petro Bokanov wurde am 29. März 1968 in der ukrainischen Hauptstadt Kiew geboren.
- 1997 kam er nach Speyer und blieb dort neun Jahre lang. Danach zog der Familienvater nach Mannheim. Er hat die doppelte Staatsbürgerschaft.
- Bokanov ist Priester der ukrainisch-orthodoxen Gemeinden in Frankfurt und Mannheim. Außerdem ist er als Militär- und Sanitätspriester tätig und an der Koordination der Flüchtlingshilfe beteiligt.
- Bokanov arbeitet als Programmierer in einem Softwareunternehmen.
Bekommt die Ukraine für ihren Kampf genügend militärische Unterstützung aus dem Westen?
Bokanov: Natürlich würden wir gerne noch mehr Waffen haben. Aber wir sind sehr dankbar für jede Art der Unterstützung. Es geht nicht nur um die militärische Aufrüstung, wir bekommen auch viel Geld. Und es ist unbezahlbar, dass Europa so viele unserer Flüchtlinge aufgenommen hat und diese versorgt.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich immer wieder viel Kritik von der Ukraine anhören müssen wegen seiner am Anfang doch sehr zögerlichen Haltung.
Bokanov: Scholz hat sich inzwischen geändert. Am Wochenende hat er auf der Münchner Sicherheitskonferenz sogar die Verbündeten aufgerufen, schneller Kampfpanzer zu liefern. Aber nur damit Sie mich nicht falsch verstehen: Keiner von uns ist für Krieg. Wir haben diesen Krieg auch nicht angefangen. Wir wollen, dass er beendet wird.
Wann ist der Krieg denn vorbei?
Bokanov: Sobald Russland alle Truppen abgezogen und alle besetzten oder annektierten Gebiete wieder zurückgegeben hat.
Also auch die Krim?
Bokanov: Natürlich.
Das ist doch völlig unrealistisch. Präsident Wolodymyr Selenskyj wollte nach Kriegsbeginn deshalb vor einem Jahr ja ohne solche Maximalforderungen mit Russland über einen Frieden verhandeln.
Bokanov: Moment mal, es gibt den alten und den neuen Selenskyi. Das Massaker von Butscha im Frühjahr 2022 hat alles geändert. Danach gab es noch weitere. So viele Menschen wurden gefoltert, vergewaltigt, verletzt und oder sogar getötet. Deshalb kann es auch keine Kompromisslösung geben.
Haben Sie nicht Angst, dass der Westen mit der Zeit Druck ausübt und sagt: Verhandelt endlich, die Krim ist nicht so wichtig?
Bokanov: Solche Stimmen gibt es doch schon jetzt in Deutschland. Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht und jetzt sogar der Philosoph Jürgen Habermas – alle fordern uns zu Verhandlungen mit Russland auf. Das ist natürlich Unsinn. Russland ist eine gierige Imperialmacht, deren Söldner und Truppen auf Befehl von Putin einen Genozid an der ukrainischen Bevölkerung begehen. Wie will die Ukraine denn da mit Putin verhandeln? Das ist doch absurd.
Wann waren Sie denn zuletzt in der Ukraine?
Bokanov: Im Dezember 2021. Seit März 2022 betreue ich ukrainische Flüchtlinge und kümmere mich außerdem um verwundete Soldaten und kranke Zivilisten.
Sie sind seit 2015 Militär- und Sanitätspriester.
Bokanov: Ja, damals waren die Patienten in den Bundeswehrkrankenhäusern wie zum Beispiel in Koblenz untergebracht. Inzwischen liegen in fast jeder Klinik in der Metropolregion welche. Ich schätze, dass es gegenwärtig rund 550 Ukrainer sind. In Weinheim betreue ich außerdem Waisenkinder. In den ersten Kriegsmonaten, als sehr viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, habe ich kaum geschlafen. Außerdem betreue ich auch noch als Priester meine zwei Gemeinden in Frankfurt und Mannheim.
Wo groß sind die denn?
Bokanov: Sie sind größer geworden. In Frankfurt waren es vor dem Krieg so rund 80 Mitglieder, jetzt sind es bis zu 200. Beim Ostergottesdienst waren 600 Menschen da. Die Gemeinde in Mannheim ist kleiner, weil es dort ja auch eine russisch-orthodoxe Gemeinde gibt, aber auch dort hat sich die Zahl von 30 auf 60 verdoppelt. An Ostern waren es 400. Mit der Zahl der Flüchtlinge haben wir also gewaltigen Zuwachs bekommen. Seit Jahresbeginn bin ich auch ab und zu als Priester und Koordinator für die Flüchtlingshilfe in Schwetzingen, Darmstadt, Marburg, Gießen und Birkenau im Odenwald tätig. Da hat sich jetzt ein deutschlandweites Netz entwickelt.
Wie geht es den Menschen?
Bokanov: Viele sind deprimiert und leiden natürlich unter posttraumatischen Belastungsstörungen, und zwar nicht nur die Soldaten. Die Familien sind getrennt, die Frauen und Kinder sind jetzt in Deutschland, die Männer kämpfen in der Ukraine, wenn sie nicht schon umgebracht wurden oder verletzt im Krankenbett in den Kliniken liegen. Viele Familien haben ihr Zuhause verloren oder leben unter russischer Besatzung im Osten der Ukraine. Klar ist aber, die meisten Flüchtlinge wollen wieder in ihre Heimat zurück.
Zweifeln die Menschen am Sinn des Krieges?
Bokanov: Was heißt da Sinn des Krieges? Die Menschen zweifeln nicht daran, dass wir uns verteidigen und wehren müssen. Man muss aber auch wissen, dass viele Russen, die in Russland leben, ihre familiären Verbindungen in die Ukraine gekappt haben. Die Ukrainer fühlen sich auch von ihrer russischen Verwandtschaft im Stich gelassen. Der Krieg hat viele Familienbande über die Grenzen hinweg zerstört.
Wie halten Sie das alles durch??
Bokanov: Dieses Jahr war für mich natürlich emotional und psychisch sehr anstrengend. Ich habe seit dem 24. Februar 2022 keinen freien Abend, kein freies Wochenende und natürlich auch keinen Urlaub gehabt. Außerdem bin ich ja berufstätig. Ich habe auch noch eine Familie. Ich bin erschöpft, aber motiviert. Ich will den Menschen helfen. Ich habe aber den Eindruck, dass die vielen Flüchtlinge sich in Deutschland einigermaßen eingelebt haben. Viele suchen sich eine Beschäftigung oder haben schon welche gefunden. Ich glaube, dass der deutsche Arbeitsmarkt von ihnen profitieren wird. Man sieht auch an den Stellenanzeigen, dass die Unternehmen jetzt schon gezielt Ukrainerinnen und Ukrainer suchen. Ich gehe also davon aus, dass die Integration in den Arbeitsmarkt positiv verlaufen wird. Dagegen ist die Wohnungssituation sehr angespannt.
Es kommen aber doch nicht mehr so viele nach Deutschland?
Bokanov: Das stimmt, aber inzwischen sind die Aufnahmekapazitäten erschöpft, viele Familien müssen jetzt in Turnhallen leben. Aber klar ist, dass der deutsche Staat sehr viel macht, obwohl die Lage anders ist als 2015.
Warum, damals kamen doch auch rund eine Million Syrerinnen und Syrer nach Deutschland?
Bokanov: Das stimmt, aber die Flüchtlingswelle aus der Ukraine kam ja wie aus heiterem Himmel. Niemand hat sich doch vorstellen können, dass Russland die Ukraine überfallen würde.
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