OB-Wahl

Darum haben in der Neckarstadt-West so wenige gewählt

Am Sonntag wählt Mannheim einen neuen Oberbürgermeister. Ein Politik-Professor rechnet nicht damit, dass die zuletzt niedrige Wahlbeteiligung in der Neckarstadt-West wesentlich steigen wird - und erklärt, warum

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Martin Geiger
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Die Mittelstraße in der Neckarstadt-West: Im Vergleich zu anderen Stadtteilen sind hier relativ wenig Wahlplakate zu sehen. © Christoph Blüthner

Mannheim. Am Neumarkt, im Herzen der Neckarstadt-West, sieht man sehr gut, wie kommunalpolitische Entscheidungen den Alltag verändern. Für 2,5 Millionen Euro ist der Platz in den vergangenen Jahren umgestaltet worden: moderner Spielplatz, tolles Klettergerüst, neue Bänke, aufgemöbelter Schattenhain, größerer Gemeinschaftsgarten. Dennoch sagt die 36-jährige Mutter, die auf den Jungen dort oben im Klettergerüst aufpasst und wie die meisten lieber anonym bleiben möchte: „Gewählt? Ich habe noch nie gewählt.“ Also auch nicht bei der ersten Runde der Oberbürgermeisterwahl vor drei Wochen. Wann der zweite Durchgang stattfindet, weiß sie gar nicht. „Ich will einfach nicht. Es gibt keinen Grund, warum ich das tun sollte.“

Geringes Interesse an Wahlen hat in der Neckarstadt-West Tradition

So geht es offenbar noch vielen anderen hier. Gerade mal 16,5 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner der Neckarstadt-West haben am 18. Juni von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Also ungefähr jeder Sechste. Das war der niedrigste Wert in ganz Mannheim. Halb so viele wie im städtischen Durchschnitt. In Feudenheim war die Wahlbeteiligung drei Mal so hoch.

Was für den einen oder die andere erschreckend klingt, ist für Fachleute keine Überraschung. Schon bei der OB-Wahl 2007 war die Beteiligung in der Neckarstadt-West mit 17 Prozent die drittschlechteste. Bei der OB-Wahl 2015 war sie mit 14,5 Prozent die niedrigste. So wie dieses Mal wieder.

Auch Hanan Ibrahim wollte eigentlich nicht zur Wahl gehen. „Es war zu wenig Werbung hier. Ich wusste gar nicht, wer was ist“, sagt die 42-Jährige, die mit ein paar Kindern im Schlepptau gerade über den Neumarkt zurück zum Campus Neckarstadt-West läuft, wo sie arbeitet. Aber dann hat ein Nachbar ihr erzählt, dass er die AfD wählen würde – obwohl die gar keinen Kandidaten aufgestellt hatte. Da beschloss Ibrahim, doch ihre Stimme abzugeben: „Wir dürfen solchen Leuten keinen Meter nachgeben.“

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„Es wird sich nichts ändern“: Kein Interesse an der OB-Wahl in Mannheim

Für den 59-jährigen Mann, der ein paar Meter entfernt auf einer Bank sitzt und schon zur Mittagszeit eine Flasche Bier neben sich stehen hat, spielt die Parteizugehörigkeit der Kandidierenden keine Rolle mehr. „Die machen eh alle Scheiße“, sagt er. Er deutet auf die Blumenkübel nebenan, in denen alles verdorrt ist, und auf die abgesperrten Bänke neben dem Kiosk: „Große Versprechen, aber nichts halten.“ Darum sei es sinnlos, zu wählen: „Es wird sich nichts ändern.“ Seit 30 Jahren lebe er in der Neckarstadt-West. Die gegerbte Haut und die breiten Zahnlücken lassen vermuten, dass es schwere Jahre waren.

Was der 59-Jährige beschreibt, kann Rüdiger Schmitt-Beck erklären. Der Professor für politische Soziologie an der Mannheimer Universität erforscht unter anderem das Wahlverhalten. Er sagt: „Da, wo die sozioökonomischen Verhältnisse schlecht sind, ist die Wahrscheinlichkeit für eine hohe Wahlbeteiligung gering.“ Und dass die Verhältnisse hier im Stadtteil schwierig sind, ist kein Geheimnis. „Sozialstrukturell auffällig“ heißt das im Amtsdeutsch der Stadtverwaltung. Die Kurzfassung lautet: viele Arbeitslose, hoher Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund, zahlreiche Zu- und Wegzüge, viele, die auf staatliche Leistungen angewiesen sind.

Darum ist die niedrige Wahlbeteiligung in der Neckarstadt-West für Schmitt-Beck nichts Ungewöhnliches. Neben den allgemeinen Erklärungen, dass Kommunalwahlen als weniger wichtig erachtet werden und die Stimmabgabe immer seltener als Bürgerpflicht angesehen wird, sei die Sozialstruktur der entscheidende Faktor. Aber warum hängt die Wahlbeteiligung so stark davon ab?

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Der Professor nennt drei Ursachen. Erstens sei die Motivation benachteiligter Menschen geringer. „Sie haben nicht das Gefühl, dass man etwas beeinflussen kann“, sagt er. „Sie erleben sich häufig als wirkungslos. Darum haben viele ein Gefühl der Machtlosigkeit.“

Keine Mobilisierung im Umfeld: "Politikabstinenz verstärkt sich gegenseitig"

Zweitens sei ihre Befähigung geringer, erklärt Schmitt-Beck. Das fange bei der Informiertheit an: „Haben die Leute es auf dem Radar, dass eine Wahl ist?“ Dafür spielten Plakate und öffentliche Auftritte eine entscheidende Rolle. Denn häufig sei dies der einzige Weg, auf dem politische Botschaften sie erreichten. Tatsächlich fällt beim Rundgang durch das Viertel auf, dass im Vergleich zu anderen Stadtteilen relativ wenige Plakate zu sehen sind.

Bei der Entscheidungsfindung setze sich das Problem fort, so der Wissenschaftler. Diese sei gerade bei einer Personenwahl – bei der viele Kandidierende auch noch darauf verzichteten, offensiv auf die Parteien hinzuweisen, die sie unterstützen – besonders schwierig. Und drittens sei die Mobilisierung durch das Umfeld geringer. Weil es Familienmitgliedern, Freundinnen, Verwandten und Kollegen häufig ähnlich gehe. „Die Politikabstinenz verstärkt sich gegenseitig“, sagt Schmitt-Beck. Sein Fazit: „Nichts spricht dafür, dass in der Neckarstadt-West viele Menschen wählen gehen.“

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„Ich kenne die Kandidaten nicht. Wen soll ich da wählen?"

Diese theoretischen Erkenntnisse werden durch das untermauert, was der Besitzer eines jener Lokale in der Mittelstraße erzählt, die irgendwo zwischen Café, Restaurant und Spelunke changieren. Er sitzt am Nachmittag alleine mit einem Bekannten an einem der Tische mit den durchsichtigen Plastikdecken und raucht. „Ich habe noch nie gewählt“, sagt er. „Ich kenne die Kandidaten nicht. Wen soll ich da wählen? So ist es sinnlos.“ Auch bei seinen Gästen sei die Wahl kein Thema gewesen: „Die Leute haben genug andere Probleme.“ Inflation, Armut, die Folgen der Pandemie, hohe Zuwanderung. Als er vor mehr als 50 Jahren aus Istanbul in die Neckarstadt kam, sei es noch besser gewesen. Jetzt gehe alles mehr oder weniger den Bach runter. Nächsten Monat werde er das Lokal schließen. Zu wenig Gäste. „Aber was kann man tun? Gar nichts.“

Freibier am Wahltag

  • Ungewöhnliche Aktion für eine höhere Wahlbeteiligung: Am Sonntag laden von 12 bis 18 Uhr der Immobilieninvestor Marcel Hauptenbuchner (Hildebrandt und Hees) und der Vorstand der Good Brands AG, Matthias Storch, alle Interessierten zu Partys im Jungbusch und der Neckarstadt-West ein. Im „Alla Worscht“ (Beilstraße 1) und im „Concrete Coffee“ (Neumarkt) gibt es dann dank der Unterstützung von Sponsoren kostenlos Bier, Würstchen, Kaffee, Zimtschnecken und Eis. Auch Livemusik ist geplant.
  • Mit den beiden Veranstaltungen wollen die Organisatoren eigenen Angaben zufolge dazu beitragen, die Wahlbeteiligung in den beiden Stadtteilen zu erhöhen. „Wir wollen nicht in irgendeiner Form parteipolitisch sein“, sagte Hauptenbuchner. Die geringe Teilnahme im Jungbusch und der Neckarstadt-West an der ersten Runde der Oberbürgermeisterwahl vor drei Wochen sei jedoch „ein Armutszeugnis für die Demokratie“. Darum wolle er zusammen mit Storch bei den Partys die Anwohnerinnen und Anwohner dazu aufrufen, ihre Stimme abzugeben. 

Städtische Analyse zur Wahlbeteiligung nach der OB-Wahl 2015

Neben dieser gefühlten Machtlosigkeit spielt wohl auch der relativ hohe Anteil an Ausländern eine Rolle. Zumindest hat eine städtische Analyse der OB-Wahl 2015 ergeben, dass seinerzeit nur etwa fünf Prozent der wahlberechtigten EU-Bürger ihre Stimme abgegeben haben, während es bei den Deutschen ungefähr 34 Prozent taten. Weitere Faktoren, die damals identifiziert worden sind, weil ein Zusammenhang mit der Wahlbeteiligung erkennbar war, sind die Bevölkerungsdichte, die Altersstruktur sowie die Zu- und Abwanderungsquote.

„Ich glaube, dass viele Menschen hier gar kein politisches Verständnis haben und sich nicht aktiv mit der Wahl auseinandersetzen, weil es ihnen egal ist“, sagt die Leiterin einer Kindertageseinrichtung im Stadtteil. „Wer kennt hier schon den aktuellen OB?“ Stadtverwaltung und Kommunalpolitik seien für die meisten sehr weit weg. Es reiche nicht, einmal pro Wahlperiode den Kontakt zu den Bürgern zu suchen: „Man müsste eigentlich wie Streetworker eine aufsuchende Arbeit machen“, sagt die Pädagogin. „Aber das kostet Zeit und Mühe.“ Nachdenklich fügt sie hinzu: „Viele Leute leben in einer Parallelwelt. Ich spüre ganz viel Ablehnung. Das macht mir Bauchschmerzen.“

Redaktion Reporter für das Ressort "Mannheim".

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