Migrationsstadt Mannheim

Auf der Flucht von der Familie getrennt - Giti Negah lebt alleine in der Region

Giti Negah ist 34 und hat gerade ihre Ausbildung in Mannheim abgeschlossen

Von 
Eva Baumgartner
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Giti Negah hat gerade ihre Ausbildung zur Kinderpflegerin an der Carlo Schmid Schule in Neckarau absolviert. © Eva Baumgartner

Mannheim. Manche Narben sind noch heute am Körper von Giti Negah sichtbar. Andere liegen verborgen in ihrem Inneren, aber schmerzen noch viel mehr: Denn als die gebürtige Afghanin 2013 mit ihrer Familie vom Iran in die Türkei und weiter nach Griechenland flieht, wird sie von ihrem Mann und den zwei kleinen Kindern getrennt. Ein Jahr lang weiß sie nicht, wo sie sind.

Giti Negah plant damals mit ihrem Mann, dass Europa ihre neue Heimat werden soll. „Ich wollte, dass meine Kinder eine bessere Zukunft haben“, sagt sie. Ihr Vater hat sich schon neun Monate vorher auf den Weg dorthin gemacht. Nach vielen Monaten erreicht die junge Familie Samos - Giti Negah ist damals 25, ihre Kinder drei und sieben Jahre alt. Dort muss sie zunächst zwölf Tage ins Gefängnis: „Wir sollten uns entscheiden, ob wir einen Asylantrag in Griechenland stellen oder raus möchten. Wir hatten einen Monat Zeit, das Land zu verlassen, sonst hätten wir zwei Jahre ins Gefängnis gemusst.“ Für sie steht fest: Sie wollen so schnell wie möglich weg.

Auf der Flucht von der Familie getrennt

Es geht hektisch zu, als die Familie Samos verlässt: „Wir waren eine größere Gruppe, es war Winter, kalt, und es hat geregnet“, erinnert sich die 34-Jährige. Ihre Schuhe sind nach den vielen Monaten Flucht bereits durchgelaufen, die Löcher darin so groß, dass Giti Negah sie mit einem Seil zusammenbinden muss - noch heute hat sie davon Narben an ihren Füßen.

Als die Gruppe irgendwo auf Autos aufgeteilt wird, gerät plötzlich alles durcheinander - und die junge Frau landet in einem anderen Wagen als ihr Mann und die Kinder: „Mein Mann hatte den Kleinen auf dem Arm, und dann ist der Größere zu ihm gerannt. Ich hab’ geschrien, wollte auch hin, aber wir mussten still sein, sonst wären wir entdeckt worden“, erinnert sie sich. „Sie haben uns in die Autos geschubst, ich hatte schreckliche Angst und habe nur noch geweint.“

Keine Spur von den Liebsten

Für Giti Negah geht es über Mazedonien und Serbien weiter, und unterwegs wird die bildhübsche Frau fast von einer anderen Gruppe entführt, kann aber von den Männern ihrer Gruppe gerettet werden. Als sie endlich in einer Flüchtlingsunterkunft in Heidelberg ankommt, ist sie allein. Von ihrer Familie gibt es keine Spur. Sie stellt Nachfragen, sucht ihre Familie, weiß nicht, ob sie es geschafft hat - ob überhaupt noch alle leben. Erst gut ein Jahr, nachdem Giti Negah ihre Familie zuletzt gesehen hat, klingelt ihr Telefon. Der Anruf kommt aus Wien - und jemand sagt: „Hallo Mama“: „Da habe ich nur noch geschrien, ich dachte nicht, dass ich meine Kinder noch mal sehen kann.“ Während Giti Negah mit ihrer Gruppe nämlich in Deutschland ankommt, landen ihr Mann und die Kinder am Ende der Flucht in Österreich.

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Doch es vergeht eine lange Zeit, bis Giti Negah ihre Familie wiedersieht: „Erst sollten sie alle herkommen, dann sollte ich hin, und dann haben wir entschieden, dass ich hier erst alles zuende bringe mit meiner begonnenen Ausbildung und Deutsch lerne. Meine Familie wollte in Österreich bleiben, die Kinder haben da schon eine ganze Weile gelebt, hatten dort Freunde.“ Zudem fällt in Österreich direkt auf, wie gut ihr Sohn Fußball spielt: „Er ist inzwischen 15 und dort sehr erfolgreich, spielt in der ersten Liga in seiner Altersklasse“, sagt die Mutter stolz. Sie will ihm den Erfolg weiter ermöglichen. „Er lebt in Wien. Und es freut mich, dass er mit seinem Fußball so glücklich ist, dann geht es mir auch besser.“

Giti Negah will ihre Chance in Deutschland nutzen, von Anfang an etwas erreichen. Nach der Ankunft in Heidelberg macht sie zunächst einen Alphabetisierungskurs. Als Hausfrau und Mutter aus Afghanistan sei das schwer gewesen: „Die Menschen auf dem Amt in Heidelberg haben mich angeschrien, dass ich mit einem Dolmetscher kommen soll, ich habe geweint und geweint - und gemerkt, ich muss mir hier selber helfen.“ Doch sie findet Unterstützung von vielen Menschen, ist dafür „unendlich dankbar“: „Von Sandra, von Florian Barth von der Kapellengemeinde Heidelberg. Ich danke allen so sehr, die mir geholfen haben.“

Erst Hauptschulabschluss, dann Ausbildung  

Sie entschließt sich, den Hauptschulabschluss zu machen, lebt in dieser Zeit in Neckarau: „Das war schwer, besonders Mathe und Englisch und der ganze Online-Unterricht wegen Corona.“ Dann startet sie eine Ausbildung als Krankenpflegerin an der Carlo-Schmid-Schule. Auch diese schließt sie mit Erfolg ab - und hält vor wenigen Wochen stolz ihr Abschlusszeugnis der Berufsfachschule für Kinderpflege als staatlich anerkannte Kinderpflegerin in den Händen.

Zeit für sich hat sie in den vergangenen Jahren selten: „Ich habe immer gelernt nach der Schule. Von 24 Stunden hab ich vielleicht vier geschlafen, sonst immer gelernt: „Und unsere Klasse war wie eine Familie, auch die Lehrer, sie haben es uns 100 Mal erklärt, wir haben uns immer gegenseitig unterstützt, jeder hatte seine Probleme.“ Sie habe immer gedacht, dass alle Deutschen im Paradies leben: „Ich hätte nie gedacht, dass es auch hier Menschen gibt, die nie eine Schule besucht haben.“

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Nach vielen Jahren in Deutschland wünscht sie sich nichts mehr, als die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten: „Ich bin ehrenamtlich tätig, trotzdem wurde meine Einbürgerung drei Mal abgelehnt. Ich habe so viele Jahre meine Identität versteckt, aber ich liebe Deutschland seit meiner Kindheit, und es wäre mir eine Ehre, wenn ich Deutsche sein kann.“

Als Kind Kommissar Rex geschaut

Ihr erster Kontakt zu Deutschland entsteht nämlich schon, als sie zehn Jahre alt ist. „Da habe ich eine Serie gesehen, Kommissar Rex.“ Sie erinnert sich sehr gut an den Hauptdarsteller, Gedeon Burkhard: „Er war mein Traummann“, lacht sie. Dienstagabends habe sie immer die synchronisierte Version der deutschen Serie geschaut, bei der neben Burkhard ein Hund eine Hauptrolle spielt: „Bei uns gab es auch Schäferhunde.“ Die Sendung ist damals auch eine Art Flucht aus einer schweren Kindheit in Afghanistan: „Es war hart, unsere Schule wurde bombardiert, die Wohnung.“

Giti Negah lebt zu dieser Zeit bei ihrer Großmutter, und die schickt das Mädchen schließlich in den Iran zum Vater, weil es in Afghanistan zu gefährlich ist: „Das war die schlimmste Phase in meinem Leben, es ist schlimm, wenn man als Mädchen kein Zuhause hat.“ Im Iran liest sie viele Bücher, schreibt Gedichte und Geschichten. „Ich durfte aber nicht in die Schule gehen, später nicht mal eine SIM-Karte haben.“

Ihre Kinder leben in Österreich

Es schmerzt sie, was aus ihrem Geburtsland geworden ist, und sie beschreibt die Lage im heutigen Afghanistan als „unfassbar“: „Es gibt keine Arbeit, keiner darf raus oder rein. Und wenn eine Frau ohne ihren Mann draußen ist. . .“, sie macht eine lange Pause, „es ist noch schlimmer als 2015.“ Früher, sagt sie, war das Leben in Afghanistan dem in Europa sehr ähnlich: „Viele in der Familie haben studiert.“

Lange hat Giti Negah kein Gefühl, eine Heimat zu haben. „Doch jetzt ist Deutschland meine Heimat“, sagt sie bestimmt. In der deutschen Sprache ist sie so verwurzelt, dass sie sogar Gedichte auf Deutsch schreibt. „Ich bete auf Deutsch, denke auf Deutsch, inzwischen streite ich auch auf Deutsch“, lacht sie. Nur die persische Küche liebt sie mehr, vor allem scharfe Gerichte.

Ihre Ehe ist inzwischen zerbrochen, den zwei Kindern zuliebe stimmt sie zu, dass ihr Mann das alleinige Sorgerecht hat - schließlich leben die Drei in Österreich zusammen. Ihr reicht ein kleines Zimmer, sie bezeichnet es als „Palast und Paradies“. Wenn dann noch die Kinder bei ihr sind, ist ihre Welt perfekt, sagt sie. Deshalb sieht sie ihre Söhne regelmäßig - und ist sich sicher, dass sie eine gute Zukunft haben werden.

Redaktion Eva Baumgartner gehört zur Lokalredaktion Mannheim.

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