Mannheim. „Scheiße.“ Das ist das erste deutsche Wort, das Mustafa Badawi hört. Dass es kein schönes Wort ist, das weiß er noch nicht, als er Ende 2014 nach Deutschland kommt. Zu diesem Zeitpunkt hat er eine lange Reise hinter sich.
Drei Monate dauert sein Weg: erst in die Türkei, dann mit dem Boot nach Griechenland. Dort wird er zunächst von der Polizei geschnappt, kommt aber später mit Schleusern weiter. Mehr möchte er über diesen Abschnitt seines Lebens nicht erzählen. Nur das: „Viele Leute haben diese Flucht mit dem Leben bezahlt.“
Zu Fuß in die Türkei
Seine Frau, Seba Neen, folgt ihm mit den drei Töchtern über ein Jahr später, im Januar 2016. Auch sie setzen ihr Leben aufs Spiel, gehen von Syrien zu Fuß in die Türkei. Dort wird die Lage chaotisch: Mit ihren Kindern muss die Mutter vier Meter hohe Zäune überwinden, überall sind Schüsse zu hören. Die Schleuser versuchen, drei oder vier Gruppen gleichzeitig über die Grenze zu bringen. „Alle Taschen sind dabei verloren gegangen. Ich konnte nur die Kinder halten“, sagt Seba Neen.
Obwohl Mustafa Badawi und seine Frau damals wissen, dass die Flucht lebensgefährlich sein würde, gibt es für sie keine Alternative: „Die Kinder waren ständig in Luftschutzkellern in Aleppo“, berichtet der Vater. Die Jahre 2012 und 2013 seien „eine Katastrophe“ gewesen: „Schule fand manchmal nur an zwei Tagen im Monat statt. Und für unsere Kleinste war es besonders schwer, sie hatte in dieser Zeit nur Kontakt zu ihrer Familie, sonst zu keinem.“
Hoffnung auf Mannheim
Vor seiner Flucht ist Mustafa Badawi Offizier in Syrien, hat Elektrotechnik studiert: drei Jahre Grundlagen, dann zwei weitere Jahre als Offizier. Seine Frau arbeitet als Bauzeichnerin im Rathaus in Aleppo. Dokumente über seine Ausbildung hat Mustafa Badawi nicht: „Ich bekomme sie nicht, weil es militärische Dokumente sind.“ Seinen Führerschein hat er auf dem Weg nach Deutschland dabei - um ein Dokument zu haben, das seine Identität bestätigt.
Der Familienvater setzt bei seiner Ankunft große Hoffnungen auf Mannheim, auf die „internationale Stadt“, wie er sagt. Doch er merkt schnell, dass alles sehr lange dauert. Zwei Jahre versucht er, einen Job zu bekommen. Einen, in dem er sein Wissen aus der Elektrotechnik einbringen kann. In einem Betrieb darf er ein einmonatiges Praktikum absolvieren: „Mehr hat nicht geklappt. Ich hatte keinen Mut mehr, fühlte mich schlecht. Dann habe ich mich entschieden, weiter Deutschkurse zu machen.“
Die Kurse absolviert er in der Mannheimer Abendakademie. Dort erfährt er, dass Kontrolleure in Straßenbahnen gesucht werden und überlegt nicht lange: Er lernt das Liniennetz kennen, wie er mit Menschen bei Kontrollen umgeht, die ihm möglicherweise nicht freundlich gestimmt sind. Dann ist es soweit: Fast drei Jahre, nachdem er hier angekommen ist, hat er seinen ersten Job und startet im September 2017 als Kontrolleur bei der RNV.
„Es tat weh, aber ich musste das Gefühl akzeptieren, dass Deutsch nicht meine Sprache ist, dass ich nicht so weit kommen kann wie in meiner Heimat.“ Doch er versucht, das Beste aus der Situation zu machen, schließt eine Ausbildung als Straßenbahnfahrer an - und lenkt im September 2019 die erste Bahn durch Mannheim: „Es ist ein guter Job, aber stressig, man hat große Verantwortung, und der Zeitdruck ist hoch.“ Gerade hat er auch den Busführerschein gemacht.
Töchter besuchen das Mannheimer Moll-Gymnasium
Seba Neen ist noch immer auf der Suche nach Arbeit. Sie kennt sich im Hochbau aus, wird als Bauzeichnerin für Praktika gerne genommen. Feste Jobs entstehen daraus nicht: „Vielleicht liegt es an meinem Kopftuch“, überlegt sie. 2018 habe sie bereits einen Vertrag unterschrieben, dann entschied sich die Firma doch noch um. „Dabei habe ich Erfahrung, habe in Aleppo fünf Jahre lang Baupläne gemacht.“ Um Geld zu verdienen, arbeitet sie zuletzt über eine Leihfirma bei der Post.
Nicht immer begreift die Familie aus Syrien, warum Dinge hier so sind, wie sie sind: „Wir versuchen, die Kultur hier zu verstehen, zu lernen, auch die Balance zwischen der neuen und unserer Kultur zu finden.“ Als Teil der Gesellschaft fühlen sich aber alle: „Ich arbeite seit sechs Jahren und zahle meine Steuern hier“, sagt Mustafa Badawi.
Auf seine Einbürgerung wartet der Syrer lange, mit einem Anwalt schafft er es schließlich: „Nur bei meiner Familie dauert es noch, sie kamen ja später.“ Die Eltern wünschen sich, dass ihre Töchter hier Fuß fassen, alle besuchen das Moll-Gymnasium: „Ich hoffe, sie können ihre Zukunft gestalten.“ Doch er gibt zu: „Wir beten jeden Tag, dass wir wieder nach Hause können.“ Seine fünf Schwestern und den Bruder hat er neun Jahre nicht gesehen: „Mein Vater ist 2021 gestorben.“
Der Geruch von Jasmin
Aus der Heimat hat Familie Badawi vor allem Erinnerungen mitgebracht. Bei Mustafa Badawi ist es ein bestimmter Geruch, der ihn auch in Mannheim daran erinnert, wo seine Wurzeln sind: „Jasmin, diese Pflanzen wachsen in Syrien überall“, sagt er. Seba Neen bereitet in Deutschland traditionelle syrische Gerichte zu, die sie an Zuhause erinnern.

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Gegenstände aus Syrien finden sich im Wohnzimmer der Familie im Mannheimer Stadtteil Neckarau kaum, lediglich ein paar Bilder stehen in einem Regal in der Dachwohnung. „Wir haben ein ganzes Haus gebaut in einem Dorf in Syrien, hatten auch ein Haus in Aleppo, wir hatten ein Auto und Geld, einen Plan vom Leben. Jetzt ist alles weg. Wir sitzen hier und lachen sogar manchmal, weil wir uns das Leben ganz anders vorgestellt hatten.“
Ein Großteil seiner Familie sei inzwischen in vielen Ländern verteilt: „Unsere Familie ist zerstört. Als hätte uns jemand über der ganzen Welt ausgestreut.“
Familie fühlt sich in Mannheim wohl
Ohne Unterstützung, da ist sich der 48-Jährige sicher, hätte er es in Deutschland nicht geschafft: „Hilfe ist wichtig, egal, welche Leistungen oder Kenntnisse man hat.“ Freilich, auch Vorurteile gibt es: „Menschen sagen, dass wir ihr Land kaputtmachen. Aber tatsächlich sind wir doch gezwungen, hierher zu kommen. Wir mussten einen sicheren Ort finden, uns, unsere Familie retten.“
Negative Gefühle ihnen gegenüber können sie nicht verstehen: „Niemand würde doch seine Heimat und Wurzeln verlassen und irgendwo hingehen. Man kann sich so etwas nicht vorstellen, wenn man nicht selbst durch so was gegangen ist.“ Der Krieg, der seit über einem Jahr in der Ukraine tobt, geht deshalb nicht spurlos an der Familie vorüber. „Hoffentlich passiert hier nichts. Ich möchte das nie mehr erleben.“
Im Mannheimer Süden fühlt sich das Paar mit den Kindern wohl, dankt allen Menschen, „die uns Hilfe und Unterstützung geleistet haben, deutlich und von ganzem Herzen“. Auch die Nachbarn sind „so nett“ - doch eine echte neue Heimat ist Mannheim für die Badawis noch nicht. Hier gibt es zwar auch Jasmin: Doch wenn der süße und honigartige Duft in die Nase von Mustafa Badawi steigt, denkt er an Syrien. Daran, wie es früher war.
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