Interview

„Armenarzt" Gerhard Trabert: „Politiker weit entfernt von Lebensrealität der Menschen“

Gerhard Trabert erfand als „Streetdoc" das Arztmobil und war als Krisenarzt in den Höllen dieser Welt. Ein Gespräch über Rechtspopulismus und Rassismus, die Linke, die AfD, Sahra Wagenknecht - und „First-World-Problems"

Von 
Lea Seethaler
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Wenn Gerhard Trabert aus Katastrophengebieten der Welt - etwa vom Seenotrettungsboot-Einsatz im Mittelmeer - nach Deutschland zurückkommt, findet er, dass er nicht mehr in die "Prioritätenliste" der hiesigen Gesellschaft passt. © Christof Mattes

Mannheim. Gerhard Trabert kandidiert parteilos auf Listenplatz vier bei der Europawahl für die Linke und sprach am Samstag beim Jahresauftakt der Mannheimer Linken im Trafohaus. Wir haben ihn vorab interwiewt.

Herr Trabert, aktuell wird viel demonstriert gegen rechts, nachdem zuletzt die Correctiv-Recherchen geschockt haben, das Klima aufgeheizt ist. Was denken Sie darüber?

Gerhard Trabert: Ja, gerade jetzt, ist es sehr gut, dass so viel gegen Rassismus und Rechtpopulismus demonstriert wird. Und da müssen wir uns natürlich auch vernetzen und eine Front gegen die AfD und all die, die das weiterhin propagieren, organisieren. Dennoch sehe ich aber auch eine Mitschuld für diese Entwicklung.

Bei wem?

Trabert: Wenn ein Herr Merz einfach die Unwahrheit sagt. Wenn er von Sozialtourismus spricht, wenn er behauptet, Asylbewerber würden Zahnarztpraxen blockieren, kostenlose Zahnsanierungen erhalten, während deutsche Bürger keine Termine bekommen. Das Asylbewerberleistungsgesetz Paragraph 4 und 6 besagt, dass Menschen eben nur bei einer akuten Erkrankung und bei Schmerzzuständen Anspruch auf Gesundheitsversorgung haben.

Und ja, auch wenn eine Frau Baerbock sagt, Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien seien damit zu rechtfertigen, weil man dann mehr Geld hat, um in Deutschland stärker gegen Kinderarmut aktiv werden zu können. Wenn ein Herr Lindner bei dem Kindergrundsicherungsvertrag sagt: „Wir streichen die 20 Euro, die für die Kinder Asylsuchender vorgesehen sind", weil das ein schlechtes Zeichen wäre. Was ist daran schlecht, wenn diese Kinder, diese Familien, bei dieser Inflationsentwicklung etwas mehr finanzielle Ressourcen fürs Versorgen ihrer Kinder erhalten? Das sind alles Facetten, die eine rassistische Komponente beinhalten. Wenn ein Herr Spahn sogar von legitimer physischer Gewaltanwendung an den europäischen Grenzen spricht. Oder auch wenn eine Frau Wagenknecht sich in diesem Kontext ebenfalls absolut rechtspopulistisch äußert.

Der „Armenarzt“ – Zur Person Gerhard Trabert

  • Gerhard Trabert, geb. 1956, ist Professor für Sozialmedizin und -psychiatrie und Arzt für Allgemein- und Notfallmedizin. Er ist seit mehr als 30 Jahren in Katastrophengebieten unterwegs. Im Einsatz war er etwa nach dem Tsunami, bei der IS-Schlacht um Mossul - sowie regelmäßig im Mittelmeer auf Seenotrettungsbooten.
  • Als erster Arzt in Deutschland bekam er als "Streetdoc" für sein Arztmobil, eine Praxis im umgebauten Sprinter, eine Kassenzulassung. Damit half er obdachlosen Menschen.
  • Der Mainzer ist Träger des Bundesverdienstkreuzes und der Paracelsus Medaille, sie gilt als höchste Auszeichnung der Deutschen Ärzteschaft. Er publizierte etwa zu den Themen Armut und Gesundheit, Kinderarmut sowie Armut und Suizidalität. Er ist Gründungsvorsitzender von „Armut und Gesundheit in Deutschland e.V“. Er gründete u. a. „Flüsterpost e. V.", der Kinder krebskranker Eltern unterstützt.
  • Trabert kandidierte mehrfach parteilos für die Linke – etwa als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten.
  • Der Ex-Leistungssportler (Leichtathletik) wurde zudem 2020 zum "Hochschullehrer des Jahres" ernannt. Er lehrt an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden. see

 

Wie wirkt das auf Sie?

Trabert: Das alles stellt ein Verhalten von etablierten Parteien dar, das zeigt, dass sie das, was die Rechten hier propagieren, mit etwas Entgegenkommen versuchen abzuschwächen. Um eventuell deren Stimmenanteil damit zu reduzieren. Aber wir wissen doch, dass das historisch falsch ist, keinen Millimeter nach rechts! Und damit sehe ich auch eine Mitschuld bei all diesen Parteien. Mir ist es wichtig zu betonen, dass es etwas mit Menschenrechten zu tun hat, dass es etwas mit der elementaren Identität Europas, Deutschlands, einer Demokratie, einer westlichen Demokratie, zu tun hat, zu sagen, dass Flucht ein Menschenrecht darstellt.

Und dass diese Menschen zudem eine ganz wichtige Ressource sein können, wenn wir ihnen Chancen dazu geben. Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind, dürfen sofort Arbeit suchen und annehmen. Menschen aus anderen Ländern, müssen mindestens drei Monate oder länger warten. Und viele wollen doch arbeiten. Und sie wollen auch aus Dankbarkeit etwas tun, dass sie hier sein dürfen. Das alles ist mit ein Grund, warum wir so ein problematisches Meinungsbild haben.

Sie sind voller Elan. Wie prägt sie ihre Vor-Ort-Arbeit in den Krisengebieten?

Trabert: Ich versuche nicht nur theoretisch oder politisch etwas entgegenzusetzen, sondern auch praktisch. Indem ich eben auch im Mittelmeer, auf Lesbos, in Syrien, der Ukraine bin. Und durch den Kontakt zu den Menschen höre ich, wie es dort ist, wie es den Menschen geht, und kann darüber dann berichten. Darüber, dass das absolut nachvollziehbar ist, dass die Menschen fliehen. Und warum sie das machen. Und dass es unsere Verantwortung und soziale Pflicht ist, den Menschen zu helfen.

Doch das passiert nicht. Warum?

Trabert: Ein großes Problem ist, dass geflüchtete Menschen im Diskurs sehr defizitär und negativ gesehen und dargestellt werden. Es gibt zahlreiche Studien, wie die des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung von Professor Brücker, die belegen, dass von den 2015 geflüchteten Menschen im Jahr 2023 über 60 Prozent in einem sozialversicherungsrechtlichen Arbeitsverhältnis sind. Sie also in unser Sozialsystem einzahlen. Sie tragen dazu bei, dass unser Sozialsystem stabilisiert wird, sie destabilisieren es nicht. Das muss mehr kommuniziert werden. Vielleicht motivieren diese Fakten dann mehr Politiker, etwas für Menschen auch auf deren Flucht zu tun.

Trabert und sein Arztmobil: Wohnungslosen helfen mit dem Mainzer Modell –„Kommt der Patient nicht zum Arzt, muss der Arzt zum Patienten.“ © Christof Mattes

Warum muss sich hier dringend etwas ändern?

Trabert: Wir kennen in der Traumaforschung drei Formen von Traumatisierung. Die primäre Traumatisierung: Ich bin selbst das Opfer. Die sekundäre Traumatisierung: Ich beobachte, wie jemand traumatisiert wird. Wichtig ist die dritte Form: Tertiäre Traumatisierung. Die besagt, wenn ich einen Menschen mit einem primären oder sekundären Trauma ohne Respekt begegne, nicht zuhöre, er keine Möglichkeit hat, über das Erlebte zu sprechen, man ihm nicht mit Empathie begegnet - das muss jetzt keine Psychotherapie sein - kommt es zu dieser Traumatisierung. Sie ist gravierender als die primäre oder sekundäre. Denn so kommt es zu einer Chronifizierung des Traumas.

Sehr viele Menschen, die geflohen sind, sind traumatisiert, gerade auch Kinder. Das bedeutet, wenn ich nicht diese Angebote mache, wenn ich mich nicht empathisch und respektvoll den Menschen zuwende, dann ist das nicht nur ein Unterlassen von Hilfe, sondern: Es ist eine Form der aktiven tertiären Traumatisierung. Und das muss uns auch bewusst sein. Wir sind ein Teil des Problems und nicht der Lösung und erzeugen noch mehr Probleme.

Es wird immer wieder das Thema mangelnde Integration angesprochen. Stichwort Parallelgesellschaften. Was sagen Sie dazu?

Trabert: Fakt ist, dass wir zu wenig Deutschkurse anbieten. Viele wollen ja die Sprache lernen und wollen sich integrieren, aber da ist unser Angebot viel zu rudimentär und ich weiß aus Erfahrung, dass etwa Menschen, die aus Syrien geflohen sind und eine medizinisch qualitativ gute Ausbildung besitzen, es unglaublich schwer haben, hier wieder arbeiten zu dürfen. Was sie dafür alles nachweisen müssen… Man sagt dann: „Ja, wir brauchen ihren Abschluss aus Aleppo oder aus Idlib oder wo auch immer. Dann muss man sagen: „Ähm ja, da ist aber Krieg." Da müsste es ganz andere Verfahren geben, in denen man schaut, wie das fachliche Wissen ist. Wir wissen, dass Ärzte aus Syrien einen sehr guten Ausbildungsstand haben und hier gebraucht werden. Oder es viele Lehrerinnen und Lehrer aus diesen Regionen gibt, die man hier auch brauchen könnte.

Der Mainzer Sozialmediziner und Krisenarzt ist seit mehr als 30 Jahren in Katastrophengebieten unterwegs: Gerhard Trabert versorgt ein Kind mit Brandwunden. © DPA

Jetzt leben wir in dieser Zeit mit Dauerkrisen, Inflation und Co. Da müsste die Linke, für die sie parteilos kandidieren, ja eigentlich andauernd punkten bei den Wählern. Warum klappt das nicht?

Trabert: Das ist natürlich die Frage aller Fragen. Ich bin ja parteilos. Aber klar, ich kandidiere jetzt auf der Liste der Linken und bin der Partei sehr nah. Und ich bin mit dem, was ich fordere und mit den Inhalten der Partei bei der Linken gut verortet. Warum gelingt das nicht so ganz? Verstehe ich ehrlich gesagt auch nicht. Wir wissen, die Armut nimmt zu, es wird immer weniger über Umverteilung gesprochen. Es ist eben nicht das Problem, dass der aus Syrien Geflüchtete dem deutschen Wohnungslosen die Wohnung wegnehmen würde, wie von rechts propagiert. Sondern es ist eine Frage von Reichtum und Armut. Das Problem ist, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr auseinander geht.

Woran machen Sie das fest?

Trabert: Etwa dass wir bezüglich der Wohnraumsituation Leerstand und Spekulationsprojekte erlauben. Und auch den sozialen Wohnungsbau total vernachlässigt haben. In Spanien ist Spekulation von Wohnraum verboten. Es gibt also staatliche Interventionsmöglichkeiten. Wien ist ein tolles Beispiel für den Erhalt von Sozialwohnungen. Das Airbnb-Phänomen ist in anderen Ländern verboten, dass man Wohnraum als Ferienwohnungsangebot zweckentfremdet. Und übrigens habe ich von meinen Besuchen in Mannheim in Erinnerung, dass Menschen aus der Wohnungslosenhilfe mir sagten, dass auch in dieser Stadt der soziale Wohnungsbau absolut vernachlässigt wurde. Und dass viele darunter leiden, auch weil die Mieten so hoch sind, dass dieser soziale Wohnungsbau nicht mehr ausreichend existent ist.

Was wollen Sie konkret machen, um wieder Wähler zu begeistern?

Trabert: Ich hoffe, und das ist ja auch meine Motivation, mich so zu engagieren, dass jetzt endlich Themen im Mittelpunkt stehen. Wenn wir das gemeinsam schaffen, dann glaube ich, kann man Menschen auch wieder überzeugen zu sagen, ja, was diese Partei fordert, das ist richtig und das unterstützen wir. Denn wenn Sie sich das Parteiprogramm der AfD anschauen… Ja, die machen ja überhaupt nichts für sozial benachteiligte Menschen, für eine Verbesserung derer Lebenssituation.

Die sind gegen eine Vermögenssteuer, die wollen, dass die Frauen zu Hause am Herd sind, sind gegen Kinderbetreuung in den ersten drei Jahren. Das ist ja eine Katastrophe und das muss man auch immer wieder transparent machen! Das mache ich übrigens jetzt auch bei meinen Vorträgen. Also nicht nur zu sagen. „Die AfD ist rassistisch“, sondern noch mal deutlich zu machen: „Was sagt diese Partei zu diesem Thema?“. Um transparent zu machen: Die ist nicht die Partei des kleinen Mannes oder der benachteiligten Frau.

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Haben Sie Angst vor dem Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) als Linke-Konkurrenz?

Trabert: Ich sehe dieses Bündnis nicht als Konkurrenz. Was Wagenknecht und ihr Bündnis zur Asylpolitik sagt, ist rechtspopulistisch. Das geht ja genau in die AfD-Argumentations-Schiene. Und auch was sie zum Bürgergeld und den davon betroffenen Menschen äußert, zum Thema Sanktionen, ist unverschämt. Das ist identisch mit dem, was CDU, CSU, FDP auch dazu sagen. Bei nur drei Prozent der Bezieher von Bürgergeld kommt es zu Sanktionen. Der häufigste Grund ist dabei, dass irgendein Termin vernachlässigt wurde… Und ich denke, die Zahlen, da gibt es zahlreiche Untersuchungen - bezüglich der Steuerhinterziehungsrate- sind wesentlich höher.

Durch diese Debatte wird immer wieder ein negatives Bild bezüglich der Menschen am Rande der Gesellschaft suggeriert, gerade auch zur Bürgergelderhöhung. Jahrelang wurde Hartz-IV, das Bürgergeld, nur ganz gering erhöht. Da ist man ganz nah bei Meloni. Denn in Italien hat Meloni, die Postfaschistin, das Bürgergeld abgeschafft. Ich sehe bezüglich der Äußerungen des BSW gegenüber geflüchteten Menschen und Bürgergeldbeziehern viele Parallelen und Überschneidungen zu einer rechtspopulistischen Politik. Die Linke ist immer international gewesen. Die Politik von Frau Wagenknecht hat in meinen Augen nichts mit einer menschenrechtskonformen und linken Politik zu tun.

Sie fährt ja auch einen interessanten Russlandkurs.

Trabert: Ohja.

Sie gehören ja zu den Unterzeichnern des „Manifest für Frieden“, also kurz gesagt: „Ohne Waffen gegen Putin.“ Würden Sie das nach dem Tod von Nawalny wieder so unterschreiben?

Trabert: Ohja. Hier habe ich aber die Bitte, das genau durchzulesen, was ich da unterschrieben habe. Da war der Passus wir sind „gegen eine Eskalation von Waffenlieferungen“. Das ist ein ganz wichtiger Unterschied, dort stand nicht „gegen Waffenlieferungen“. Sondern eine Eskalation - und ich habe persönlich auch immer gesagt, aufgrund meiner Erlebnisse auch in Kriegsregionen, etwa im Jugoslawienkonflikt, dass in einer ersten Phase, wenn ein Aggressor, ein Diktator, ein Land überfällt, muss man leider auch militärisch entgegentreten können, weil sonst die Zivilbevölkerung absolut darunter leidet.

Ich habe jetzt, was Russland angeht, nicht wirklich eine Lösung parat. Aber irgendwann müssen wir auch phantasievoll kreativ überlegen: Wie kann ein Waffenstillstand, wie kann Frieden wiederhergestellt werden? Das, was Wagenknecht sagt zu Russland, dem stimme ich überhaupt nicht zu. Wie etwa die Gaslieferungen und so weiter. Das ist alles Quatsch. Er ist der Aggressor. Natürlich ist er für den Tod von Nawalny verantwortlich. Das alles verurteile ich zutiefst.

Aber ...?

Trabert: Ich kritisiere aber auch diese zunehmende Kriegsrhetorik. Ich finde man muss im Diskurs überhaupt wieder die Option von einem zukünftigen Waffenstillstand mehr in den Fokus rücken. Ich gebe zu, dass ich mich auch hilflos und ein Stück weit ohnmächtig fühle. Aber bei dieser ganzen Brutalität, dieser Aggression, diesen Kriegsphantasien darf es auch nicht sein, dass wir jetzt über Atomraketenstationierung reden. Das führt zu einer Eskalation von Gewalt. Man wird Russland nicht militärisch besiegen können. Das ist eine Realität in meinen Augen.

Wissen Sie, ich war ja jetzt zweimal in der Ukraine, nächste Woche fahre ich das dritte Mal hin. Ich habe mit vielen Menschen dort gesprochen und viele sagen einfach auch: „Ich bin müde. Ich kann diesen Bombenalarm nicht mehr aushalten jede Nacht.“ Ich habe das ja selbst einige Nächte erlebt, wenn jede Nacht der Alarm ertönt, das macht was mit Ihnen. Und jetzt, wo die Menschen nur noch in der U-Bahn übernachten, zu sagen, wer für Friedensverhandlungen oder Waffenstillstand ist, ist gegen die ukrainische Bevölkerung, das stimmt so nicht.

Stellen Sie sich mal vor, alle, die bei den Demos gegen rechts auf der Straße sind, wären nur in kleinster Weise so konkret engagiert, wie Sie es über Ihren Alltag berichten. Wäre die Welt da nicht besser?

Trabert: Absolut. Es reicht nicht, zu reden. Zu demonstrieren. Wir müssen noch mehr handeln. Wir müssen beim Thema soziale Benachteiligung anfangen. Das fängt schon bei der Nachbarschaftshilfe an. Zu schauen: Ist da eine alleinerziehende Mutter, die Hilfe braucht? Denn 43 Prozent aller Alleinerziehenden sind von Armut betroffen und 88 Prozent sind Frauen! Oder: Ist da die ältere, alleinstehende Dame, Stichwort Altersarmut, Genderungerechtigkeit. Sehr viele Frauen geraten in diese Armutsfalle, weil die geleistete Fürsorgearbeit wie Kindererziehung, Pflege von Angehörigen, keine Rentenansprüche generieren. Da versagt die Politik.

Was kann man da machen?

Trabert: Hinschauen nicht wegschauen: Da ist diese geflüchtete Familie. Kann ich da vielleicht Deutschunterricht ganz privat geben? Wer mit offenen Augen durch unsere Gesellschaft geht, wird viele Menschen treffen, denen er helfen kann. Ich glaube, dass der Bürger wesentlich sensibler für diese sozialen Themen ist, als die politisch Verantwortlichen. Ich habe immer wieder das Gefühl, dass gerade diejenigen, die bei uns in den Parlamenten sitzen, so weit entfernt sind von der Lebensrealität vieler Menschen. Die wissen überhaupt nicht mehr, wenn es etwa ums Bürgergeld geht, dass jemand, der es bezieht und ein fünfjähriges Kind hat, 3,50 Euro am Tag für Ernährung vom Staat zur Verfügung gestellt bekommt. Davon kann kein Kind gesund ernährt werden. Das ist fernab jeder wissenschaftliche Expertise. 3,50 Euro für Frühstück, Mittagessen, Abendessen!

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Ob Not-OP in Mossul, wo der IS Menschen als lebendige Schutzschilder missbrauchte, oder ertrinkende Kinder im Mittelmeer: Sie haben so viel Grausamkeit, Siechtum und so oft den Tod gesehen. Was macht das mit Ihnen?

Trabert: Einmal zeigt es mir, wo überall in der Welt soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit herrscht. Dabei geht es oft um Machtinteressen, Kapitalismus und Narzissmus, speziell männlichen Narzissmus. Und darum, wie immer wieder Menschen, oft von Benachteiligung und Armut betroffene Menschen, darunter leiden. Das macht mich traurig und wütend. Ich orientiere mich da an einer Aussage von Albert Camus. Es geht nicht um die Revolution, sondern um die chronische Revolte. Also nicht aufzugeben.

Und da stimme ich auch ausnahmsweise Angela Merkel zu, es ist alternativlos, dem etwas entgegenzusetzen, trotz aller Frustration. Trotz manchmal dem Gefühl: Was bringt das alles? Aber wenn wir, ich der privilegiert ist, dem es gut geht, wenn wir nicht, ich nicht, immer dort hinfahre, die Finger in die Wunde lege, wer denn sonst? Wissen Sie, viele Themen, die hier so im Fokus stehen, ob das die Steuererklärung oder sonst was ist, die sind so trivial. Ich hab´ dann schon manchmal das Gefühl, ich passe nicht mehr so in die Prioritätenliste unserer Gesellschaft.

Sie meinen First-World-Problems?

Trabert: Ja, genau!

Haben Sie das Gefühl, die Menschen sind allgemein empathieloser geworden?

Trabert: Oh, das glaube ich nicht. Also ich glaube, dass alles schwieriger geworden ist. Wir haben so eine, ja wie soll ich das sagen, eine Reizüberflutung. Es ist alles schwerer. Ich sehe das auch bei meinen Studierenden, die im Übrigen politisch sehr vorbildlich aktiv sind und sich sehr engagieren. Früher haben wir die Bibliothek gehabt, da wurden zehn Bücher zu einem Thema ausgeliehen und gut war. Heute schwirrt von jeder Seite in jeder Form etwas auf einen ein. Die Menschen werden über die sozialen Medien berieselt. Sie kriegen Fake News. Sie wissen gar nicht mehr: Was ist jetzt real? Was ist schlimm, was nicht? Und das macht es, glaube ich, unheimlich schwierig, auch die Globalisierung.

Der Mensch möchte ja Kontrolle über sein Leben haben, das gibt ihm Sicherheit. Und mit dieser Globalisierung, mit dieser Digitalisierung, mit dieser Vielfalt, haben viele das Gefühl, dass sie die Kontrolle über ihr Leben verlieren. Das macht Angst und das führt glaube ich zum Teil dazu, dass sie sich zurückziehen. Und, und, und. Da muss man den Menschen wieder Mut machen. Man muss aber auch die Gefahren von bestimmten Medien deutlich machen. Schulen haben da einen ganz wichtigen Auftrag.

Wie sind sie als Mensch so empathisch geworden, wie sie sind?

Trabert: Also das hat bestimmt etwas mit meinen Eltern zu tun. Mein Vater war Arbeiter, Werkzeugmacher. Aber dann war er Erzieher in einem Waisenhaus. Wir haben direkt dort gewohnt. Dort aufzuwachsen hat mir gezeigt: Ich bin absolut privilegiert. All meinen Spielkameraden ging es schlechter. Einfach materiell schlechter, aber auch in der Schule waren sie immer die Ersten, die man für irgendetwas verantwortlich gemacht hat. Das hat bei mir das Ungerechtigkeitsempfinden geprägt.

Politisch unheimlich geprägt haben mich die Berichte meines Vaters, der als ganz junger Mann im Zweiten Weltkrieg war. Er hat immer von meinem Großonkel erzählt. Dieser war überzeugter Sozialdemokrat und Antifaschist und gegen die Nazis. Er war auch im KZ Osthofen gewesen. Er hat immer wieder gesagt, unter diesen Bedingungen: „Wir müssen diesem Nationalsozialismus entgegentreten!“ Er wurde dann an die Ostfront versetzt. Er hat stets gesagt: "Ich werde eines Tages mit dem Zylinder auf dem Kopf durch die Stadt fahren, durch Mainz fahren, und die Niederlage Hitlers feiern." Und ja, es gibt ein Bild, wo er in einer Wehrmachtsuniform mit einem Zylinder auf dem Kopf zu sehen ist. Das fand ich unheimlich mutig. Und ich hab immer gedacht: "Wow, hättest du  in so einem totalitären Regime den Mut gehabt, das, was du denkst, auch so klar zu kommunzieren?"

Redaktion Redakteurin und Online-Koordinatorin der Mannheimer Lokalredaktion

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