Mannheim. Viele Geflüchtete, die nach Mannheim kommen, haben im Ukraine-Krieg massivste seelische oder körperliche Bedrohungen erlitten. Etwa durch den Beschuss ihrer Häuser oder andere Kampfhandlungen. „Es sind schwerwiegende Erfahrungen, die die Menschen gemacht haben und aktuell machen. Und es sind viele unterschiedliche Erfahrungen, die sie erlebt haben“, sagt Lea Schell, die die psychosomatische Station für Traumafolgestörungen bei Erwachsenen im Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) leitet.
Manche machen die schrecklichen Erfahrungen indirekt, manche ganz direkt. Viele mussten den Tod von Bekannten oder Verwandten erleben. Oder wurden selbst angegriffen und verletzt und haben nur knapp überlebt. „Umso wichtiger ist daher, dass der oder die einzelne im persönlichen Gespräch mit seiner Erfahrung nicht alleine ist“, betont Schell.
Raum geben ist das Wichtigste
Das Wichtigste sei, dass man den Menschen einen Raum biete, in dem sie über die schwierigen Erfahrungen sprechen können. Und Austausch darüber haben. „Und dass die Menschen Strategien erlernen, die Folgen zu kontrollieren. Etwa wenn lebendige Erinnerungen an die Geschehnisse auftauchen, dass sie dann in der Lage sind, sich selbst zurück ins Hier und Jetzt zu holen.“ Für die Betroffenen seien solche Strategien „immens hilfreich“, so Schell.
Das ZI plant in Kürze einen muttersprachlichen Psychotherapeuten in der Mannheimer Jugendherberge (Erstanlaufstelle) zu installieren. Das sagt Oliver Hennig, Leiter der Zentralambulanz am ZI. Der oder die Beraterin wird einen halben oder ganzen Tag vor Ort sein. Auch wenn so selbstverständlich keine vollständige und ausführliche Traumatherapie möglich ist - die von Schell eingangs genannten Strategien etwa können dort erlernt werden.
Flucht ohne Psychopharmaka
Am ZI selbst habe man sich mit Beginn des Krieges überlegt, wie man helfen könne: „Wir haben hausintern geschaut: Erst einmal auf der Sprachebene, wer kann helfen?“, erklärt Hennig. „Das war unser erster Schritt. Wir haben nun rund 20 ukrainisch- oder russischsprachige Menschen, die Hilfe angeboten haben.“ Dabei seien auch Fachärzte für Psychiatrie oder Psychotherapeuten. „Wieder andere arbeiten eigentlich in anderen Bereichen, können aber übersetzen“, sagt er. „Es war für die Menschen am ZI sehr wichtig, etwas zu tun. Sie sind sehr dankbar, dass wir das machen. Etwas zu tun, nicht nur machtlos da zu sitzen, in dieser Situation, ist für sie sehr wichtig.“ Denn viele hätten selbst Verbindungen in die Ukraine.
Eine Methode, bei der die Geschichte der Geflüchteten zählt
- Psychotherapie für Geflüchtete müsse stets „die soziale und kulturelle Zugehörigkeit der Person aufnehmen“ sowie „seine Lebenslinie und Biografie im Blick haben“, betonen die Wissenschaftler Maggie Schauer, Thomas Elbert (beide Uni Konstanz) und Frank Neuner (Uni Bielefeld) in einem Fachbeitrag zum Thema Psychotherapie mit Geflüchteten.
- Das Erlangen von Würde und, dass das geschehene Unrecht von anderen als solches anerkannt werde, wirke dabei positiv auf die Bewältigung des Geschehenen. Das Forschertrio hat basierend auf dieser Erkenntnis eine Therapie entwickelt, die sich „Narrative Expositionstherapie (NET)“ nennt.
- Wie der Name schon sagt, ist das Merkmal, dass die Geflüchteten ihre Geschichte erzählen, ein Kernelement. Oliver Hennig vom ZI sagt, sie wäre in der aktuellen Situation eine der „möglichen und gut untersuchten“ therapeutischen Ansätze und einsetzbar auch in Mannheim.
- „Nach Menschen-, Frauen- und Kinderrechtsverletzungen und sozialer Erniedrigung kann es in der Therapie nie nur um eine Intervention gehen (...) sondern es muss immer um Genesung im echten Sinne gehen, nämlich Rettung, Gesundung und Heimat finden“, schlussfolgern Schauer, Elbert und Neuner.
- Dies beinhalte „auch das Finden von sozialer Zugehörigkeit und Rang, durch Verbesserung der sozialen und beruflichen Funktionsfähigkeit“, machen sie deutlich.
- Die Forscher verweisen dabei auf die althochdeutsche Wurzel des Wortes genesen, „ginesan“ – das bedeutet einmal Wurzeln schlagen –und andererseits gesund werden. Beides sei unmittelbar verwoben.
- Das Verfahren erweise sich als gut verbreitbar und zeige „sich robust in seiner Wirkung, auch in der Anwendung in ressourcenarmen Kontexten sowie in Situationen von fortdauerndem Stress und Unsicherheit im Lebensumfeld.“ Vor allem zeigten Erwachsene, aber auch Kinder und Jugendliche verschiedenster Kulturgruppen hohe Motivation, an einer NET teilzunehmen und diese Behandlung abzuschließen. see
Aktuell versuche man am ZI vor allem das Tagesgeschäft umzustrukturieren und freie Slots zu schaffen. Dabei stehe die Versorgung von schwer psychisch erkrankten Geflüchteten im Vordergrund: „Manche haben nur noch Tabletten für eine Woche oder gar keine mehr dabei“, so Hennig. So sei etwa kürzlich ein Mann mit einer schweren Zwangsstörung so an der Mannheimer Jugendherberge angekommen. „Durch die Stresssituation werden die Zwänge meist noch schlimmer. Die Menschen waschen sich dann etwa unentwegt oder sind in ihren zwanghaften Gedanken gefangen.“ Die Weiterbehandlung von Patienten mit schwerer psychiatrischer Diagnose sei sehr wichtig, auch für den Gesamtverlauf der Krankheit. Werden Psychopharmaka abrupt abgesetzt oder nicht ausgeschlichen, drohen zudem Nebenwirkungen, starke und belastende Rückfälle, die großes Leid verursachen, so Hennig.
Das große Leid aus der Ukraine wird indes einen Teil der Menschen nicht loslassen: „Es wird Menschen geben, die eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln werden“, sagt Lea Schell. Diese kann kurzfristig oder verzögert auftreten. Manchmal auch Jahre später.
Ein Symptom für ein Trauma ist unter anderem, dass die Erinnerung an die Situation „ganz echt“ wirke, erklärt sie. „Vor dem geistigen Auge sieht man immer wieder, was passiert ist, erlebt sogar wieder, was man gerochen, gehört oder gedacht hat dabei. Und wie sich der eigene Körper angefühlt hat.“ Wie schwer sich die Belastungen des Ukraine-Kriegs auf die geflüchteten Menschen auswirken, hänge vom Erlebten und von den Lebensumständen ab, erklärt sie weiter.
„Immer auf der Hut“
Bei dieser unterscheidet man zwischen drei größeren Symptom-Clustern, unter denen Betroffene dann leiden. Der erste ist das ständige Wiederaufleben des Geschehenen, etwa als Flashbacks oder in Form von Alpträumen. „Diese Erinnerungen erleben die Menschen als ganz lebendig“, erklärt die ZI-Psychotherapeutin. Menschen leiden sie zweitens zudem an sogenannten Vermeidungssymptomen. „Sie meiden all das, was die Erinnerungen an das Geschehene wachrufen könnte. So schaut dann der oder die Betroffene etwa kein TV mehr, aus Angst, eine Szene aus dem Krieg könnte gezeigt werden und alles wieder hochkommen lassen“, verdeutlicht Schell. Und drittens befinden sich Betroffene schließlich in einem stetigen Zustand Übererregtheit, sind „immer auf der Hut“, schreckhaft, reizbar oder schlaflos.

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Für diese Betroffenen wäre dann eine längere Traumatherapie ratsam. „Eine Posttraumatische Belastungsstörung lässt sich gut behandeln“, betont Schell. Dennoch: Die Geflüchteten würden sich erst einmal darum kümmern müssen, „wo sie essen oder schlafen können“ - und wo ihre Kinder zur Kita gehen, was sie arbeiten können, so Schell. So hilfreich Tagesstruktur auch bei psychischen Belastungen ist - sie muss erst einmal aufgebaut werden.
Schell macht zudem noch einmal deutlich: Auch viele Leute, die kein Trauma erlitten haben, können - etwa durch den Abschied von dem Mann, der nicht aus der Ukraine ausreisen darf, weil er kämpfen muss - andere psychische Erkrankungen wie eine Depression oder eine Angststörung aus dieser extrem belastenden Situation heraus entwickeln.
Versorgung gewährleisten
ZI-Ambulanzleiter Hennig sagt indes: Durch die Coronapandemie ist der Bedarf am ZI sowieso bereits sehr groß, die Long Covid-Ambulanz sei stark nachgefragt, es gibt lange Wartelisten. Man versuche Kapazitäten aufzubauen, „um mehr Behandlungen möglich zu machen.“
Eine Geflüchtetensprechstunde wie nun geplant ist, habe man bereits zwischen 2015 und Mitte 2020 angeboten, sagt Hennig. Erfahrungen aus dieser Zeit könne man nun nutzen. Mit einer Kombi aus Vorortangeboten in der Landeserstaufnahme und weiterführendem Diagnostik- und Behandlungsangebot war man damals vor Ort. Und auch jetzt: Bevor die Menschen zum ZI kommen, sind Jugendamt und Psychosoziale Dienste vorgeschaltet, dann wird über das genauere Vorgehen entschieden, betont Hennig. Auch die Stadt Mannheim sagt auf Anfrage: In der Jugendherberge sollte eine Verweisberatung beziehungsweise Erläuterung plus gegebenenfalls Ärzteliste mit muttersprachlichen Kompetenzen bereitgestellt werden. "Da die Jugendherberge eine vorübergehende Notunterbringung ist, wird die Aufenthaltsdauer für Geflüchtete dort nur wenige Tage betragen. In dieser kurzen Zeit wird man nicht mit einer Traumatherapie beginnen. Eine Diagnose kann an jedem weiteren Ort, an dem sich die Familien beziehungsweise Personen längerfristig aufhalten durch niedergelassene Ärzte oder Ambulanzen an den Fachkliniken erfolgen."

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