Als die Mannheimer Bundestagsabgeordnete Gökay Akbulut (Die Linke) von der griechischen Insel Lesbos aus anruft, hört man, wie emotional aufgeladen sie ist. „Katastrophal, nicht vorstellbar“, seien noch immer die Zustände im Flüchtlingslager Kara Tepe, das sie mit einer Delegation der Linken besucht hat. Die Gruppe ist abgereist, Akbulut ist noch länger geblieben. Um sich weiter mit Nicht-Regierungsorganisationen vor Ort zu vernetzen, erzählt sie.
„Es gibt hier keine Sanitäranlagen, keine Elektrizität, Abwasserkanäle fließen durch das Lager“, so Akbulut. „Und das während Corona.“ Es seien verletzte Menschen dort, Menschen in Rollstühlen, Frauen und Kinder. „Die Kinder, die ich gesehen habe, spielen nicht, die haben einfach nur so vor sich hingestarrt“, sagt sie. Dann bezieht sie sich auf Angaben der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“, die ihr bei Führungen berichtet hatte, dass es gerade unter den Jugendlichen im Lager Suizidabsichten gebe. „Eingepfercht, perspektivlos, das hier ist alles politisch gewollt“, sagt Akbulut. Die EU sei „unfähig“, die mehreren Tausend Flüchtlinge unterzubringen. „Das ist ein klarer Teil der Abschottungspolitik“, so die Abgeordnete. Sie ist migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion und konstatiert: „Die EU schafft es sehr gut zusammenzuarbeiten, was militarisierte Bewachung der Grenzen angeht. Aber sie schafft es nicht, ein gemeinsames EU-Migrationssystem zu etablieren.“ Insbesondere auch durch Corona sei die Lage hier immer schlimmer geworden: Die Quarantäne fände so statt, dass einfach ein Mensch umzäunt werde, sagt Akbulut. Sie hatte bei ihrem Aufenthalt auch das „aufreibende“ Gespräch mit dem dortigen Bürgermeister gesucht, um alle Perspektiven zu hören.
Die griechische Regierung hatte unterdessen in den vergangenen Monaten Tausende Menschen aufs Festland gebracht. Solche, die mit großer Wahrscheinlichkeit Asyl bekommen werden, darunter schwangere Frauen, ältere und kranke Menschen sowie Kinder. Zudem werden seit geraumer Zeit die Seegrenzen zur Türkei schärfer überwacht. Humanitäre Organisationen werfen Griechenland vor, dabei illegale Zurückweisungen in die Türkei durchzuführen (sogenannte Pushbacks). Dies bestreitet die Regierung in Athen. Wer auf Lesbos hilft, oder etwa als Journalist über die Pushbacks berichtet, werde kriminalisiert, sagt indes Akbulut, nachdem sie mit den Menschen dort gesprochen hat. Im Lager selbst herrscht Film- und Fotoverbot.
Auf den griechischen Inseln in der östlichen Ägäis leben in den Registrierlagern immer weniger Migranten, heißt es aus Griechenland. In seiner jüngsten Statistik zählt das Bürgerschutzministerium in Athen rund 9000 Menschen, die auf den Inseln Lesbos, Chios, Kos, Leros und Samos in den Lagern ausharren. Manchmal über Monate oder Jahre. Noch im vergangenen Jahr waren es mehr als 40 000. In Kara Tepe befinden sich rund 6000 Menschen, hier bleibt die Lage trotz Rückgang am angespanntesten.
In der Quadratestadt demonstrieren derweil regelmäßig Aktivistinnen von „Seebrücke Mannheim“ für die Aufnahme von mehr Geflüchteten und die Entkriminalisierung der Seenotrettung. Die Stadt war im Mai 2020 nach einem Gemeinderatsbeschluss dem Bündnis beigetreten, hatte sich zum „Sicheren Hafen“ erklärt und für die Aufnahme weiterer Flüchtlinge ausgesprochen.
Auch aus Mannheim war immer wieder Hilfe nach Kara Tepe gekommen, so etwa Krankenschwester Simone Wählt, die dort ein Schnelleinsatzteam des Arbeiter-Samariter-Bundes leitete. Der Grund auch schon damals: „Dringend benötigte Hilfe leisten.“ Gökay Akbulut betont indes am Telefon von Lesbos aus: „Die Gewaltkette von Flucht und Waffengewalt hört nicht auf. Wir können dieses europäische Problem nur lösen, wenn wir überparteilich daran arbeiten.“ (mit dpa)
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