Städtevergleich

Mannheim belegt bei Altersarmut traurigen Spitzenplatz

Ein Leben lang arbeiten, am Ende nur der Gang aufs Sozialamt. Harte Realität für viele Mannheimer über 65. Im Land liegt die Stadt bei der Grundsicherungsquote der Senioren ganz weit vorne. Doch auch Platz 1 überrascht

Von 
Lea Seethaler
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Trotz jahrelanger Arbeit reicht in Mannheim vielen Menschen die Rente nicht aus. © Jens Kalaene/dpa

Mannheim. Mannheim hat in ganz Baden-Württemberg die zweithöchste Grundsicherungsquote im Alter. Das geht aus einer kleinen Anfrage der Bundestagsabgeordneten Gökay Akbulut (Linke) an das Bundessozialministerium hervor. „In unserer Stadt führte für 5 390 Menschen das Erreichen des Rentenalters direkt zum Sozialamt. Dies sind unhaltbare Zustände“, kommentiert Akbulut.

Bernhard Ebbinghaus, Makrosoziologie-Professor an der Uni Mannheim, forscht am Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) zu Wohlfahrtsstaat, politischen Einstellungen sowie Alterssicherungssystemen in vergleichender Perspektive. Er rechnet sogar noch mit einer größeren Dunkelziffer.

Menschen trauen sich nicht aufs Amt

„Man muss davon ausgehen, dass viele Menschen in der Statistik nicht erfasst sind, da sie nicht zum Sozialamt gehen und keine Grundsicherung beantragen. Sie sind sozusagen verdeckte Anspruchsberechtigte“, so Ebbinghaus. „Es gibt also eine höhere Dunkelziffer.“

In der Statistik überrascht derweil der Spitzenplatz bei der Grundsicherungsquote: Das sonst als so wohlhabend geltende Baden-Baden liegt auf Platz eins (6,3 Prozent der über 65 Jährigen bezogen 2020 Grundsicherung). Auch Freiburg (5, 6) oder Heidelberg (4,5) liegen bereits dicht hinter Mannheim (5,7) auf den Rängen. Ebbinghaus sagt, es könnte daran liegen, dass ärmere Ältere dort wegen hoher Mieten zum Sozialamt gehen - eigentlich, um dort Wohngeld zu beantragen. Dort werden sie auf die Grundsicherung hingewiesen und nehmen sie dann in Anspruch.

„Das sind in Mannheim schon relativ viele“

Ebbinghaus betont, dass auch Menschen, die eine Erwerbsminderungsrente haben, berücksichtigt werden müssen. Sie brauchen Grundsicherung, weil diese oft nicht ausreicht. „Die Grundsicherungsquote wegen Erwerbsminderung wird auf die Gesamtbevölkerung bezogen, sie erscheint erst einmal niedrig“, sagt er.

„Betrachtet man jedoch die absoluten Zahlen, sind das etwa in Mannheim 3100 Menschen, die Altersgrundsicherung beziehen, und zusätzlich 2250 Menschen wegen Erwerbsminderung. Das sind schon relativ viele, die bereits vor dem Ruhestandsalter davon abhängig sind“, so der Professor.

Durch Industriejobs frühverrentet

In Mannheim könnten das zum Beispiel viele Männer sein, die aufgrund der gesundheitlichen Folgen ihrer Industriejobs frühverrentet worden sind, sagt Ebbinghaus. Oder wiederum verwitwete Frauen, bei denen durch die Erwerbsbiografie die Rente nicht ausreicht. Bei den Frauen zeigt sich durch in den Statistiken die Rentenlücke, „diese fängt ja schon mit der Lohnlücke an“, betont er.

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„Geringere Erwerbstätigkeit, viel Teilzeitarbeit und Unterbrechungen sowie ein nicht so guter Verdienst im Berufsleben“ lassen die Frauen in der Statistik bis zur Hälfte weniger an Rentenbeträgen haben als die Männer. Sie sind stark armutsgefährdet.

Aus den Daten aus Akbuluts Anfrage, die etwa Werte aus den Statistischen Landesämtern oder der Deutschen Rentenversicherung beinhalten, geht zudem hervor, dass in Baden-Württemberg, die Altersarmut um einiges höher ist als im Bund, so Ebbinghaus. Die Armutsrisikoquote im Land liegt bei insgesamt 18,2, bundesweit bei 15,7 Prozent.

Ältere Menschen mit Migrationshintergrund stark armutsgefährdet

Weiter zeigen die Zahlen schonungslos: Menschen mit Migrationshintergrund haben in Baden-Württemberg ein erhöhtes Armutsrisiko. Es lag im Land 2019 bei rund 25 Prozent, bei Menschen ohne Migrationshintergrund bei etwa 19 Prozent.

Menschen mit Migrationshintergrund der ersten Generation, also die, die im Ausland geboren sind, haben noch ein höheres Risiko: Es liegt bei 31 Prozent. „Denn auch wenn sie Rentenzeiten im Ausland erworben haben, sind diese von dem, was dabei an kleinem Rentenbetrag herauskommt, nicht ausreichend für deutsche Verhältnisse“, erläutert Ebbinghaus.

Lücken in der Erwerbsbiografie

Man müsse zudem davon ausgehen, dass durch die aktuellen wirtschaftlichen Umstände trotz Renteninflationsausgleich „mehr und mehr in die Grundsicherung abrutschen“, sagt Ebbinghaus. In Mannheim bezogen 2010 rund vier Prozent der Menschen ab 65 Grundsicherung. Zehn Jahre später, 2020, waren es bereits 5,7 Prozent. „Die Quote hat sich also rund um die Hälfte erhöht“, so der Forscher. „Es wird langfristig mehr Altersarmut geben“, sagt er - auch Deutschlandweit.

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Das hat verschiedenste Gründe. Etwa, dass die Erwerbsbiografien über die Zeit hinweg immer „brüchiger geworden sind“. Auch flexiblere Arbeitszeitverhältnisse, mehr Teilzeiten, mehr Unterbrechungen und damit oft Hartz IV-Bezug spielen eine Rolle. Und auch, dass viele Geflüchtete Lücken in der Biografie vorweisen. Auch das Thema, ob jemand in Pflegebedürftigkeit die hohen Pflegekosten nicht mehr stemmen könne, werde die Altersarmut erhöhen.

„Soziale Berufe besser entlohnen“

Derweil hat Akbulut eine Forderung: „Gegen Renten, die in zukünftige Armut führen, helfen am besten hohe Löhne.“ Ein erster Schritt im Kampf gegen Altersarmut sei deshalb „die Unterstützung der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften in ihren Tarif- und Lohnkämpfen“. Zudem müssten die Reformen bei der Erwerbsminderungsrente „konsequent und gleichwertig“ auch auf ältere Jahrgänge übertragen werden.

„Wir brauchen eine echte solidarische Mindestrente nach österreichischem Vorbild. Niemand darf im Alter von weniger als 1 200 Euro netto leben müssen. Dies ist nur möglich durch ein Rentensystem, in das alle einzahlen: auch Selbstständige, Beamte und Politiker.“ Und Akbulut betont mit Nachdruck erneut: Um der Altersarmut speziell von Frauen zu begegnen, müssten Sozial- und Erziehungsberufe und die Pflege endlich besser bezahlt werden.

Akbulut verdeutlicht: „In Baden-Württemberg werden fast 30 Prozent aller künftigen Rentnerinnen und Rentner trotz 45 Jahren Vollzeitarbeit eine Rente unter 1200 Euro netto erhalten.“ Angesichts steigender Mieten und Lebenserhaltungskosten ist das deutlich zu wenig. „Wer behauptet, Armut und insbesondere Altersarmut, sei in Baden-Württemberg nur ein Randphänomen“ werde durch ihre Anfrage nun eines Besseren belehrt.

Redaktion Redakteurin und Online-Koordinatorin der Mannheimer Lokalredaktion

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