Serie „Mein Stadtteil“, Folge 10 – Neckarstadt-West - Eine Liebeserklärung von „MM“-Redakteur Walter Serif

Bunt, schrill – und schmuddelig

Von 
Walter Serif
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Blick in die Mittelstraße, die Prachtmeile der Neckarstadt-West. © Christoph Blüthner

Ich liebe die Neckarstadt-West. Ein guter Freund von mir, der ebenfalls einen Migrationshintergrund hat, meint, das würde nur daran liegen, dass ich mich in meiner Freizeit nur mit Deutschen treffen und die Wochenenden bei meiner Partnerin in Lörrach verbringen würde.

In der Tat trinke ich öfter Grauburgunder als Eichbaum. Döner und Pizza habe ich erst in der Pandemie häufig gegessen. Aber eine große Liebe erklärt sich mit Gefühlen statt mit Fakten. Die Neckarstadt-West ist für mich der Inbegriff des pulsierenden Lebens. Da ich viel und laut rede und – vor Corona – den Leuten eng auf die Pelle gerückt bin, fühle ich mich in diesem Stadtteil wohl. Er ist bunt, schrill – aber leider ein wenig schmuddelig. Deshalb würde ich die Neckarstadt-West nicht als mein Wohnzimmer bezeichnen. Denn zu Hause muss es ordentlich sein. Aber das ist eine andere Geschichte.

Rundgang

So vielfältig ist die Neckarstadt-West

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Natürlich weiß ich, dass in meinem Stadtteil nicht alles super ist. Die Schokinag stinkt manchmal wie die Pest bis auf meinen Balkon im Hinterhof. Seitdem ich nicht mehr rauche, ist meine Nase sensibler geworden. Bäh! Und ich bin auch froh, dass ich kein Auto besitze, denn die Parkplatzsituation ist unterirdisch. Aber: Erstens habe ich ein Fahrrad und profitiere von der sehr guten Anbindung ans Straßenbahnnetz. Und der Hauptbahnhof ist nicht weit für meine Fahrten nach Südbaden.

Fakten zum Stadtteil

Acht Murals von Stadt.Wand.Kunst verschönern die Neckarstadt-West.

Im Stadtteil leben Menschen aus mehr als 160 Nationen.

Im Gründerzentrum Altes Volksbad sind mehr als 15 Start-ups beheimatet.

Die Erlenhof-Siedlung in der Waldhofstraße war in den 1920-Jahren als Bau für Geringverdiener konzipiert. Der Bau mit 393 Wohnungen wurde bald zu den beliebtesten Mietobjekt der Stadt, da er der erste Neubau mit Toiletten innerhalb der eigenen Wohnung war.

Das Capitol wurde 1927 von Georg Müller gegründet. Der erste Film im damaligen Kino hieß „Sonnenaufgang".

Obwohl ich jetzt fast zehn Jahre hier wohne, weiß ich bis heute nicht genau, wo die Neckarstadt-West endet und die Neckarstadt-Ost beginnt. Das finde ich nicht so schlimm, denn auch Alteingesessene sind unsicher. Die Waldhofstraße ist ja angeblich die Grenze. Aber was soll’s, in einem dreisten Akt der territorialen Aneignung latsche ich ständig auf dem Alten Meßplatz herum. Und mein Feierabendbier trinke ich beim ALTER. Dort gibt’s Musik und manchmal auch Mannheimer Filme umsonst. Doch was der Schwabe in mir spart, gibt der Kosovo-Albaner wieder an anderer Stelle aus. Und selbstverständlich schaue ich in der Kult-Pizzeria Adria gerne Fußball und treffe mich dort mit Gesprächspartnern auf einen Cappuccino, wenn’s länger dauert, dürfen es auch Penne all’arrabiata sein. Tja, und leckere Landjäger gibt’s nur beim Metzger in der Langen Rötterstraße. Manchmal ist es hilfreich, wenn der hässliche Bruder noch einen schönen hat.

Genau das gefällt mir in meinem Revier, das ich gerne verbotenerweise Stück für Stück erweitere. Mir gefällt dieses manchmal bizarre Nebeneinander von schön und hässlich. Wenn ich am Meßplatz mit dem Rücken zum Hühnerstall stehe, lächelt mich die hübsche Fassade der Alten Feuerwache an – und dahinter sehe ich diese Neckarufer-Nord-Hochhäuser, die die Landschaft verschandeln.

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Ich habe da immer ein wenig hochnäsig hingeschaut. „Dort will ich nie wohnen“, sagte ich zu meiner Partnerin beim Spaziergang am Neckar, als sie mich zum ersten Mal besuchte. „Warum denn das?“, fragte sie und schüttelte den Kopf über meine depperte Bemerkung: „Von da oben hat man doch einen herrlichen Blick!“

Es kommt eben immer auf die Perspektive an. Als meine Partnerin mir 2011 beim Umzug half und wir öfter bei Ikea in Sandhofen einkauften, durchquerten wir jedesmal die Mittelstraße – die für Neckarstädter Verhältnisse eine Prachtmeile ist – und kamen in eine Gegend, die mir nicht so gefiel. Ein wenig düster, vielleicht doch zu multikulti? Meine Partnerin, die während ihres Islamwissenschaftsstudiums länger in Tunesien und Ägypten lebte, sagte: „Wow, diese Lebendigkeit hier in der Neckarstadt erinnert mich an Kairo!“

Die Neckarstadt-West hat natürlich auch ihre dunklen Seiten. Armut, Kriminalität, Prostitution. Ich will nicht wissen, wie viel Profit die Miethaie gemacht haben, die für ihre Schrottimmobilien den rumänischen und bulgarischen Familien ihr Geld abgeknöpft haben. Aber Vorsicht mit den Klischees! Mein Fahrrad wurde mir nicht hier, sondern bei der Arbeit in der Dudenstraße geklaut.

Also Schluss mit diesen dunklen Gedanken! Los zum Kiosk auf dem Neumarkt! Jetzt sitze ich dort, trinke etwas und lasse mir faul die Sonne auf das Gesicht scheinen. Und sofort fällt mir wieder ein, warum ich die Neckarstadt-West so sehr liebe. Weil ich mich nicht nur mit Deutschen treffe und auch nicht jedes Wochenende in Lörrach verbringe. Es ist einfach so wunderschön hier.

Redaktion Reporter für Politik und Wirtschaft

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