Mein Stadtteil - Folge 8 - „MM“-Redakteur Thorsten Langscheid über das pralle Leben zwischen Industriestandort und gediegenen Wohnvierteln im Süden Mannheims

Neckarau: Grünes Idyll unter Kraftwerks-Schornsteinen

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Thorsten Langscheid
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Blick in die Steubenstraße. Bild: Thorsten Langscheid © Thorsten Langscheid

Die Geburtsklinik

Neggeraa - Sweet Home, eine eigene Stadt in der Stadt, aber auch ein Dorf am Rande der City: Neckarau ist ein lebendiges Gemeinwesen, in dem es noch zwei beschrankte Bahnübergänge und zwei Buchläden gibt. Aber leider kein Schallplattengeschäft. Dafür aber ein tolles Hallenbad. Am Strandbad ist dagegen Baden verboten.

Als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener habe ich hier gewohnt. In der Höferstraße, der Rheingoldstraße, und der Brentanostraße. In Alt-Neckarau nicht, aber dort kam mein jüngerer Sohn zur Welt, im Entbindungsheim Altendorf-Groh in der Waldhornstraße - wo übrigens auch Steffi Graf das Licht der Welt erblickte. Die Geburtsklinik, 1926 gegründet, 2002 geschlossen, war für tausende junge Neckarauer Mütter über Jahrzehnte eine wichtige Anlaufstelle bei der Familiengründung. Und Hebamme Christa Groh hat zu jeder einzelnen von ihnen eine persönliche Beziehung aufgebaut.

Der Schlüpferbunker

Wer hier wohnt, kennt die Leute. Zum Beispiel mein Freund H., der jetzt Kommunalpolitik macht. Im Bezirksbeirat. Oder mein Freund M., der Autos verkauft, jenseits der Rheintalbahn, im Gewerbegebiet. Und mein Freund R., der mit seiner Familie einen wunderbaren Garten im Aufeld hat. Und Freundinnen meiner Frau, Krankenschwestern aus dem früheren Lanz-Krankenhaus. Und viele, viele andere Freunde und Bekannte, ohne die Neckarau nicht wäre, was es für mich ist.

Apropos Lanz. Das gibt’s zwar schon lange nicht mehr, die Klinik wurde mit dem Diakonissenkrankenhaus fusioniert, das Gebäude an der Feldbergstraße abgerissen. Nichts gegen das Diako, dort kam unser älterer Sohn zur Welt. Aber das Lanz war etwas Besonderes. Zumindest für uns. Es gab übrigens auch noch ein altes Lanz, aber das ist eine andere Geschichte, das alte Lanz stand auf dem Lindenhof.

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Neckarau - idyllisch, aber mit Ecken und Kanten

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Das Krankenhaus wurde einst von der Industriellen-Familie gestiftet. Wo jetzt die schicken Neubauwohnungen stehen, war früher die Klinik, gleich nebenan die zugehörige Krankenpflegeschule, ebenfalls längst abgerissen. Nur der Schlüpferbunker steht noch, wie mein Freund M. das Schwesternwohnheim an der Steubenstraße nannte, dessen eine (damalige) Bewohnerin (bis heute) meine besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Heimat Großkraftwerk

Neckarau ist mit seinen rund 31 000 Einwohnern einer der größeren Mannheimer Stadtbezirke und mit dem alten Ortskern Kappes, der Neuen Anlage, der Gartenstadt-Siedlung Almenhof und dem Niederfeld ein ausgezeichneter und vielfältiger Wohnstadtteil. Neckarau ist mit der Hochschule, zwei Gymnasien und dem Waldorf-Schulzentrum ein wichtiger Bildungsstandort. Das Großkraftwerk, das Bauunternehmen Diringer und Scheidel, die Suntat-Gruppe und viele andere große Unternehmen setzen den Rahmen für das, was man einen bedeutenden Gewerbe- und Industriestandort nennt.

Das Großkraftwerk ist wie die Skyline von Manhattan (Vergleiche hinken immer). Wenn man auf der Autobahn näher kommt, und plötzlich taucht das GKM im Blickfeld auf, mit seiner Dampfwolke und den Lichtern in der Dämmerung wie ein einsamer Ozeanriese - dann weiß man, dass man nach Hause kommt.

Natürlich ist es ein Anachronismus, dieses Kohlekraftwerk mit seinen immer noch rund 500 Beschäftigten, das neben Strom und Fernwärme ausgerechnet Heimatliebe erzeugt. Die Lichter sollten sie unbedingt anlassen, wenn die Kohleblöcke (hoffentlich) bald durch Flusswärmepumpen ersetzt werden. In den 1970er Jahren, wenn man weiße Wäsche über Nacht zum Trocknen raushängte, waren die Laken am nächsten Morgen gelb vom Schwefel aus den GKM-Schornsteinen. Die Turbinen hörte man nachts laut und deutlich bis auf den Almenhof.

Der Stadtteil in Zahlen

  • Neckarau war im 19. Jahrhundert das größte Dorf Badens und wurde 1899 nach Mannheim eingemeindet.
  • Mit den drei Stadtteilen Alt-Neckarau, Niederfeld und Almenhof hat der Bezirk rund 31 000 Einwohner.
  • 38 Prozent der Neckarauer haben einen Migrationshintergrund. Türkische Wurzeln haben von ihnen wiederum 14 Prozent, sie stellen die größte ethnische Gruppe.
  • 52,6 Prozent aller Haushalte in Neckarau sind Ein-Personen-Haushalte. Dazu passt, dass 42,5 Prozent aller Wohnungen im Stadtbezirk Ein- und Zweizimmerwohnungen sind.
  • Bei den letzten Gemeinderatswahlen im Mai 2019 wurden die Grünen mit 27,5 Prozent der Stimmen stärkste Kraft im Bezirk. CDU (19,9) und SPD (19,2) teilen sich die Plätze.
  • Im Stadtbezirk sind derzeit rund 12 700 Autos zugelassen, das sind 767 je 1000 Haushalte. 

Strandbad und Stollo

Nach Mannheim eingemeindet wurde Neckarau, damals das größte Dorf Badens, schon 1899. Im historischen Rathaus betreibt ein Verein das Heimatmuseum, wo man sich über die Geschichte informieren kann. Oder sich im Standesamt trauen lassen kann - wie wir damals beim legendären Gemeindesekretär Helmut Rolli. Gefeiert wurde dann um die Ecke im Cornelienhof.

Neckarau ist kein Schönwetter-Stadtteil, sondern kennt viele, wenn auch vielleicht nicht alle Probleme einer Großstadt. Vor allem die Verkehrsprobleme. Im Sommer ist das grüne Neckarau ein ganz besonderer Ort. Zum Schwimmen trifft man sich am Stollo, dem Stollenwörthweiher. Ob man im „Einser“ oder „Zweier“ auf den Pontons brutzelt, am Ufer flirtet oder seine Bahnen über den Weiher zieht, ist letztlich eine Glaubensfrage, bei der es keine objektiven Entscheidungskriterien gibt. Es sei denn, man will naggisch baden gehen: Dann bitte auf zur großen, nur über einen Pfad erreichbaren Liegewiese des Volkstümlichen Wassersportvereins (VWM).

Spielt man eigentlich wieder mit der Frisbee-Scheibe? Oder Volleyball zu zehnt im Kreis? Am Strandbad gehörte das zum Pflichtprogramm, später konnte man oben auf der Terrasse des alten Strandbadlokals zu sehr bürgerlichen Preisen Wurstsalat essen, Weizenbier trinken und der Sonne beim Untergehen zusehen - heute lockt dort das Kult-Lokal Oro der Familie Metaj mit seiner relaxten Atmosphäre.

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Reißinsel, Kleingärten

Über die benachbarte Reißinsel, das älteste, von der gleichnamigen Industriellen-Familie gestiftete Naturschutzgebiet in der Stadt, wanderten die Familien am Sonntag in Richtung Stephanienufer. Kaffee und Kuchen gab’s (zu besonderen Gelegenheiten) an den Rheinterrassen. Apropos: Familien und Freundescliquen treffen sich damals wie heute in der Kleingartenanlage Süd zum Sommerfest, oder auf der Fohlenweide, wenn dort Reitturnier oder Hubertusjagd angesagt ist. Im Reiterstübchen sitzt man auch gemütlich und isst nicht schlecht.

Die Stallungen der Reitgemeinschaft Neckarau wurden übrigens in den 1970er Jahren von Helmut Striffler geplant, jenem Mannheimer Architekten, der die evangelische Versöhnungskirche auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau geschaffen hat.

Verschwundene Bahnhöfe

Kaum vorstellbar, dass Neckarau früher drei Bahnhöfe hatte: Den Haltepunkt Altrip nutzten Beschäftigten des Großkraftwerks und der umliegenden Industriebetriebe. Bis hinunter zur Alriper Rheinfähre musste man nur wenige Meter zu Fuß gehen. Und an der Fabrikstation (hinter der neuen Hauptfeuerwache) stiegen die Arbeiter von Vögele und John Deere ein und aus. Damals fuhr noch keine Stadtbahn durch Steuben- und Rheingoldstraße und am Neckarauer Waldweg waren Entwässerungsgräben statt Bürgersteige angelegt.

Industriebetriebe wie der Seilwolff, Vögele, Coca-Cola-Müller und die Schildkröt sind verschwunden, an ihrer Stelle bereichern die Bilfinger-Zentrale, Goethe-Institut, Rhein-Neckar-Theater, Behinderten-Werkstätten - um nur einige zu nennen - das Leben in Neckarau. In Richtung Rheinau, dort, wo Neckarau plötzlich wie eine amerikanische Kleinstadt mit Strip Mall, Autowaschanlage, Biker- und Burger-Läden wirkt, residieren neuerdings (vorübergehend) die Mannheimer Finanzämter.

Gleich dahinter geht’s übrigens zum Friedhof, der eine sehenswerte, neogotische Trauerhalle hat - der Bau wurde nach der Eingemeindung Neckaraus im Jahre 1900 errichtet. Der alte Neckarauer Friedhof wird derweil fröhlich weiter genutzt - von den Lebenden: Die Grünanlage heißt heute August-Bebel-Park. Hier sind auch Stadtbücherei und Jugendtreff angesiedelt. Neckarau ist eben eine lebendige Gemeinde.

Redaktion koordiniert die Berichte aus den Mannheimer Stadtteilen.

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