Ludwigshafen. Wie erkläre ich es meinen Kindern? Wie erkläre ich meiner vierjährigen Tochter, dass ihr Vater getötet wurde? Immer und immer wieder gehen Martina Kraft diese Gedanken durch den Kopf, als sie am 18. Oktober 2022 im Wartebereich eines Krankenhauses sitzt.
Es sind fast schon rationale Überlegungen in einem Moment, in dem das Leben schlagartig aus den Fugen gerät. Martina Kraft verliert an jenem Dienstag vor genau einem Jahr ihren Ehemann Sascha Kraft. Er wird bei einem Messerangriff im Ludwigshafener Stadtteil Oggersheim getötet. Im Alter von 35 Jahren.
Nach dem Anruf spielt sich für Jonas' Mutter alles wie im Film ab
Am frühen Nachmittag des 18. Oktober 2022 erhält Maja Sprengart einen Anruf ihres Mannes. Sie ist gerade auf Mallorca im Urlaub. Nach dem Telefonat spielt sich für sie alles wie im Film ab. Sie funktioniert. Bucht ein Flugticket. Muss stundenlang am Flughafen warten. Erst in der Nacht kommt sie in Ludwigshafen an. Alles ist so unwirklich. Die Realität soll erst viel später zuschlagen. Maja Sprengart und ihr Mann Kurt verlieren an diesem Tag ihren ältesten Sohn Jonas. Niedergestochen in der Philipp-Scheidemann-Straße. Er wird nur 20 Jahre alt.
Das Band aus feinem Tüll-Stoff wiegt sanft im Wind. Es legt sich für kurze Zeit vor das Gesicht des Mannes, der leicht seitlich in die Kamera blickt. Schwarze Brille. Kurzes, gegeltes Haar. Der Ansatz eines Lächelns. Auf dem Foto in der großen Laterne lebt Sascha Kraft weiter. Ein weiteres Bild hinter einer der Scheiben zeigt ihn mit seiner kleinen Tochter. Blumen, Engelsfiguren und Grablichter stehen daneben. „Kein Tag vergeht, an dem ich nicht an dich denke und dich schmerzlich vermisse. Du ahnst ja gar nicht, wie sehr du mir fehlst.“
Martina Kraft war auch mit ihrer Tochter am Tatort in Oggersheim
Martina Kraft hat diese Nachricht am Tatort in der Philipp-Scheidemann-Straße hinterlassen. Immer wieder zieht es sie dorthin zurück, berichtet sie im Gespräch mit dieser Redaktion. Auch mit ihrer Tochter ist sie schon dort gewesen. „Dieser Ort ist für Menschen, die trauern wollen, und nicht wissen, wo Papa beerdigt ist“, habe sie ihr gesagt. „Sie findet es sehr schön, dass so viele Menschen Anteil nehmen, innehalten und Blumen oder Kerzen abstellen“, berichtet die 35-Jährige.
Dass ihr Papa tot ist, habe die damals Vierjährige sofort verstanden. „Sie ist sehr schlau für ihr Alter“, sagt Kraft. Es sei der schlimmste Tag für das Mädchen gewesen. „Sie hat nicht mehr aufgehört zu weinen.“
Die Erinnerung treibt auch der schlanken, schwarzhaarigen Frau wieder die Tränen in die Augen. Ihr Papa habe eine Verletzung erlitten. So schlimm, dass ihm nicht mehr geholfen werden konnte. Das hatte sie ihrer Tochter vor einem Jahr sagen müssen. Dass ein anderer Mensch ihren Vater umgebracht hat, weiß das Mädchen nicht.
„Warum ist er nicht zum Arzt gegangen? Warum konnte ihm nicht geholfen werden?“ Immer öfter stellt die inzwischen Fünfjährige ihrer Mutter Fragen. „Ich versuche, es so gut es geht zu erklären“, sagt die 35-Jährige. Wann der richtige Zeitpunkt für die komplette Wahrheit sein soll, ob es diesen überhaupt gibt, weiß sie nicht. Eine Psychologin steht ihr in diesen Fragen zur Seite.
Arbeit hilft den Hinterbliebenen bei der Ablenkung
Die Gedanken kommen immer in den Momenten der Einsamkeit. Dann holen die Erinnerungen und Bilder Kurt Sprengart ein. Er war damals am Tatort, am 18. Oktober des vergangenen Jahres. Sah seinen Sohn tot auf der Straße liegen. Inzwischen könne er besser damit umgehen, habe Strategien an die Hand bekommen, wie er sich befreien kann, wenn die Szenen von damals ihn mal wieder lähmen.
Kurt Sprengart ist immer noch krankgeschrieben
Er ist noch immer krankgeschrieben, leitet seinen Malerbetrieb, für den auch Jonas und Sascha gearbeitet haben, aber so gut es geht weiter. „Sobald man für sich allein ist, gehen die Gedanken zwangsläufig wieder dahin“, sagt er. Auch Maja Sprengart und Martina Kraft bestätigen das. Sie meiden diese einsamen Momente.
Maja Sprengart hat im Mai wieder angefangen zu arbeiten. „Es war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte“, sagt die 49-Jährige. Sie ist Erzieherin in Ruchheim. Die Arbeit mit den Kindern bringt sie auf andere Gedanken. „Irgendwann war ich an einem Punkt, an dem ich dachte: Ich ertrage das alles nicht mehr“, sagt sie rückblickend.
Martina Kraft geht es genauso. Bereits sechs Wochen nach dem Tod ihres Mannes hat sie ihre Tätigkeit im Globus in Grünstadt wieder aufgenommen. „Allein zuhause wäre ich durchgedreht. Die Ablenkung tut gut, einfach nicht zu viel denken“, sagt sie. Doch auch das Finanzielle spielt bei ihr eine Rolle. Schlagartig stand sie als alleinerziehende Mutter zweier Kinder da – neben der gemeinsamen Tochter brachte sie einen heute 15-jährigen Sohn mit in die Ehe. „Soweit funktioniert das aber, meine Tochter erhält eine Waisenrente“, sagt die Witwe. Und da sich der Messerangriff in der Arbeitszeit ihres Mannes ereignete, zahle auch die Unfallkasse.
Drittes Opfer überlebt durch Notoperation
In der Wohnung hat Kraft fast alles gelassen, wie es war. Hochzeitsfotos und Familienbilder hängen noch überall an den Wänden. „Ich habe nur aus unserem gemeinsamen Schlafzimmer das Kinderzimmer für meine Tochter gemacht“, sagt sie. Umziehen habe sie nicht wollen. Sie wollte ihrer Tochter nicht auch noch das Zuhause nehmen.
Es ist etwa 12.20 Uhr, als der damals 25-jährige Somalier Liban M. am 18. Oktober 2022 auf die beiden Handwerker Sascha Kraft und Jonas Sprengart losgeht. Der 20-Jährige ist sofort tot. Sascha Kraft stirbt wenig später im Krankenhaus. In der 500 Meter entfernten Comeniusstraße verletzt der Angreifer noch einen weiteren Mann lebensgefährlich. Marcel Kling überlebt dank einer Notoperation. In der Hauptverhandlung am Frankenthaler Landgericht attestiert ein psychiatrischer Sachverständiger Liban M. später eine paranoide Schizophrenie. Er wird als schuldunfähig eingestuft und freigesprochen. Derzeit ist er in einer psychiatrischen Klinik im Maßregelvollzug untergebracht.
Revisionsantrag des Angeklagten liegt beim BGH
Gegen dieses Urteil hat M. sich zur Wehr gesetzt. Er bestreitet, die Tat wegen einer psychischen Erkrankung begangen zu haben. Der Revisionsantrag ist am Freitag auf elektronischem Weg beim Bundesgerichtshof (BGH) eingegangen. Bis darüber entschieden ist, wird wohl noch einige Zeit vergehen.
Noch mehr Zeit wird es brauchen, bis die Wunden in Oggersheim verheilt sind, die der brutale Vorfall dort hinterlassen hat. „Wenn ich im Stadtteil unterwegs bin, kommt das Thema immer wieder auf“, sagt Sylvia Weiler bei einem Treffen am zweiten Tatort, der Rossmann-Filiale in der Comeniusstraße. Gerade hier im Gebiet sei die Tat präsent, förmlich greifbar. „Mir geht es genauso, wenn ich hier bin. Wenn ich mit dem Fahrrad durch die Philipp-Scheidemann-Straße fahre, bekomme ich noch heute eine Gänsehaut“, sagt die Oggersheimer Ortsvorsteherin. „Es überkommt mich eine bedrückende Stimmung. Und für die Menschen, die das damals alles hautnah miterlebt haben, muss es noch viel schlimmer sein.“
Sie beobachtet, dass die Anwohner die Tat ganz unterschiedlich verarbeiten. Manche trauern, andere verdrängen, was passiert ist. Generell seien die Bewohnerinnen und Bewohner des Gebiets nach der Tat etwas enger zusammengerückt, so ihr Eindruck.
Die Glocken in Oggersheim läuten am Mittwoch zehn Minuten
Von 12.20 Uhr bis 12.30 Uhr werden an diesem Mittwoch in Oggersheim die Glocken läuten. Im Gedenken an die zwei Leben, die in diesen nur wenigen Minuten vor genau einem Jahr ausgelöscht wurden. An die Verluste, die die Familien erleiden mussten. An das Leid, das über so viele Menschen gebracht wurde. Auch Martina Kraft, Maja und Kurt Sprengart werden dann den Glocken lauschen. Werden innehalten und sich erinnern. Voller Trauer. Voller Liebe.
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