Ohne Regung verfolgt Liban M. die Verkündung des Urteils, das über ihn gefällt wird. Er verzieht keine Miene, während ein Dolmetscher die Worte der Vorsitzenden Richterin Mirtha Hütt in seine Sprache übersetzt. Auch nicht, als diese all die brutalen Details des Messerangriffs vom Oktober 2022 noch einmal minuziös durchgeht und die Angehörigen auf der anderen Seite des Saals vor lauter Schmerz in Tränen ausbrechen. Liban M., der in Oggersheim den 20 Jahre alten Jonas Sprengart und dessen 35-jährigen Kollegen Sascha Kraft ermordet sowie Marcel Kling (27) lebensgefährlich verletzt haben soll, wird am Mittwoch vom Frankenthaler Landgericht freigesprochen. Die Kammer ordnet die dauerhafte Unterbringung des Somaliers in einer psychiatrischen Klinik an. Die Taten soll er wegen einer paranoiden Schizophrenie im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen haben.
Am Ablauf der Tat gibt es für die Kammer keinen Zweifel. In heimtückischer Weise habe er die beiden ihm unbekannten Handwerker in der Philipp-Scheidemann-Straße mit einem langen Küchenmesser attackiert. Sascha Kraft habe er einen massiven Schnitt im Halsbereich versetzt, an dem dieser kurz darauf gestorben sei. Auf Jonas Sprengart habe der Angeklagte mehrfach eingestochen, ihm den rechten Unterarm abgetrennt und diesen auf den Balkon seiner Ex-Partnerin geworfen, die in der Nähe lebte. Anschließend sei er in die rund 500 Meter entfernte Rossmann-Filiale gegangen und habe dort Marcel Kling einen für diesen völlig unvorhersehbaren Stich versetzt.
Nach Überzeugung der Kammer handelte M. im Wahn. Er sei dem Irrglauben unterlegen, bei Sascha Kraft handele es sich um einen „bösen Menschen“, den er bestrafen müsse. Denn in den Monaten zuvor habe der Angeklagte eine paranoide Schizophrenie entwickelt, unter Verfolgungswahn und Vergiftungsangst gelitten. Seine Wahnvorstellungen hätten sich insbesondere auf seine Ex-Partnerin bezogen, die in Oggersheim lebte. In deren Wohnung habe er Stimmen gehört, sich Nachbarn eingebildet, die seine Freundin und deren Kinder zu sexuellen Handlungen nötigten. „Er war von dem Gedanken besessen, dass sie ihm fremdgehe“, sagt Hütt.
Im Laufe der Zeit hätten ihn die wahnbedingten Stimmen immer mehr verhöhnt, ihn aufgefordert, seine Familie vor den Übeltätern zu schützen. Deshalb habe er sich am 18. Oktober mit dem Messer bewaffnet zu der Wohnung begeben. Genau an dem Tag, an dem ihn die Behörden wegen einer Aussage der Ex-Partnerin, die sich bedroht fühlte, in einer psychiatrischen Klinik vorstellen wollten. Doch es sei zu spät gewesen.
„Zur falschen Zeit am falschen Ort“
„Zwei junge Männer haben ihr Leben verloren, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren“, fasst Hütt die Tragik der Geschichte zusammen. Der Angeklagte habe unermessliches Leid verursacht, habe Eltern ihre Söhne genommen, Geschwistern ihre Brüder, einer Frau ihren Ehemann und deren Tochter ihren Vater. „Die Sinnlosigkeit dieser Schicksalsschläge ist schier unerträglich“, sagt die Vorsitzende Richterin zu den Angehörigen.
Und dennoch, trotz alledem, könne der Angeklagte nicht für seine Taten bestraft werden. Die Frage, wie das sein könne, sei schon nach den Plädoyers laut geworden. Hütt versucht sich an einer Erklärung. Sie erläutert, dass eine psychische Erkrankung nur schwer zu diagnostizieren sei. Sie sei nicht im Blutbild und auch nicht in einem MRT nachzuweisen. Bis zur Hauptverhandlung habe der Angeklagte kaum gesprochen, sein fehlendes soziales Umfeld habe dazu beigetragen, dass niemandem die offensichtlichen Veränderungen an ihm aufgefallen seien. Erst die Ex-Partnerin habe die Behörden über das merkwürdige und beängstigende Verhalten Liban M.s informiert.
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Es gebe letztlich keinerlei Hinweise darauf, dass die „bösen Nachbarn“ tatsächlich existieren. Die Kammer ist überzeugt, dass dies nicht der Fall ist. Genauso wie sie aber überzeugt ist, dass der Angeklagte die von ihnen ausgehende Bedrohung als real wahrgenommen habe. „Das ist das gefährliche an psychischen Erkrankungen. Der Wahn ist für Außenstehende nicht zu verstehen. Und so waren und sind auch die Taten bis heute nicht zu verstehen.“ So schmerzhaft er auch sei, der Freispruch sei letztlich unausweichlich gewesen, so Hütt. Dass der Prozess „auf der falschen Bahn“ gestartet sei, dafür trage niemand Schuld. „Es fehlten maßgebliche Erkenntnisse“, sagt die Richterin mit Blick auf das vorläufige Gutachten des Sachverständigen, das den Angeklagten als schuldfähig einstufte.
Liban M. akzeptiert Urteil nicht
Es stehe außer Frage, dass die Gesellschaft vor dem Mann geschützt werden müsse. Er leide an einer unheilbaren Krankheit, die ihn bis zu seinem Lebensende begleiten werde. Die Einsicht fehle vollkommen, wie dies häufig der Fall sei. „Der Wahn schützt sich selbst.“ Doch die Wahrscheinlichkeit sei hoch, dass vergleichbare Taten wieder passieren würden. Das habe Liban M. auch in seinen letzten Worten nochmals bestätigt, als er erneut davon sprach, mit GPS-Sendern unter seiner Haut geortet zu werden. Wie lange M. nun im Maßregelvollzug bleiben werde, sei nicht absehbar. „Die Erfahrung zeigt aber, dass die Unterbringung länger dauern kann als eine lebenslange Haft.“
„Ich akzeptiere ihr Urteil nicht“ – am Ende regt sich Liban M. dann doch. Nur über seine Leiche werde er in ein Krankenhaus gehen. Dass er psychisch krank ist, will er nicht akzeptieren. Es ist die einzige kleine Genugtuung für die Hinterbliebenen. „Wir können das Urteil akzeptieren und verstehen“, sagen Maja und Kurt Sprengart, die Eltern von Jonas. Mit Abschluss des Verfahrens wollen sie nun einen kleinen Schlussstrich ziehen.
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