Theaterfestival

Heidelberger Stückemarkt zeigt familiäre Tragödien

Missbrauch und menschliche Krisensituationen, davon erzählten zwei sehenswerte Gastspiele aus Berlin und Stockholm beim Stückemarkt in Heidelberg. Das Publikum zeigte sich in beiden Fällen beeindruckt

Von 
Eckhard Britsch
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Szene aus dem Gastspiel „Das Augenlid ist ein Muskel“. © Arno Declair

Berlin trifft Heidelberg. Das Deutsche Theater präsentiert „Das Augenlid ist ein Muskel“ des jungen Schweizer Autors Alexander Stutz, der den Missbrauch eines Buben, dessen Traumatisierung und Sprachlosigkeit verhandelt. Er und Regisseurin Jorinde Dröse entwickeln eindringliche Szenen, die punktuell die Ausweglosigkeit von Verletzungen auflisten, die nicht zuletzt durch die ungeheure Dimension kirchlicher Skandale in den Mittelpunkt gerückt sind. Wobei situative Komik nicht ausgespart wird.

Im Labyrinth der Erinnerungen

Vor knapp einem Jahr wurde das Stück in Berlin uraufgeführt, jetzt zeigt es als Gastspiel in der Theater-Spielstätte Zwinger seine Qualitäten. Paul Grill spielt den Aaron, der im Labyrinth seiner Erinnerungen kramt. Vom älteren Cousin Jan verführt, kann er sich nicht mitteilen, zumal dann, wenn sein kleiner schriftlicher Hilferuf vom Vater gröblich ignoriert wird: „Das bleibt in der Familie“, dekretiert der, und jener Ort der (Miss)Handlung wird immer wieder aufgesucht, denn am Sonntagnachmittag gibt es bei Oma Kaffee und Kuchen. Ein Ritual, das sich im Keller wiederholt, denn Aaron und Jan sind fast schicksalhaft verkettet, auch das ein Resultat von Sprachlosigkeit und Vertuschen, Hinwegsehen und Ausblenden. Neben Paul Grill (Aaron) schlüpfen die Mitspieler in verschiedene Rollen. Hilke Altefrohne pendelt zwischen schriller Oma, Jan und Kloß im Hals; Andreas Leupold ist mal Vater, dann Zahnarzt, Matratze oder Jan; Niklas Wetzel jongliert vom Bruder zum Kaugummi oder Freund. - Die ebenso intensive wie differenzierte Darstellung stieß auf große Zustimmung.

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Keine Rettung in der Notaufnahme

Später am Abend führt ein eher minimalistisch angelegtes Theaterspiel in eine Ambulanz. Dort verhandelt das Lumor-Theater in Zusammenarbeit mit dem Königlichen Dramatischen Theater Stockholm menschliche Krisensituationen als Suche nach Schuld und Irrwegen der Beziehung. Denn eingeliefert in die Notaufnahme wird eine Frau mit schweren Verletzungen (eheliche Gewalt!), an denen sie stirbt. Autorin Paula Stenström Öhmann führt auch Regie und ihre kriminologische Vorbildung lässt die Figuren im Irrgarten von Selbstsuche den Abgründen des Lebens nachspüren.

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Sparsame Bühne mit beigefarbenen Wandscheiben, im Hintergrund ein Klavier, auf dem Tasten suchend der Ton angestimmt wird: eher szenisches Memorieren als an Handlung orientiertes Theaterspiel, so gewährt die Autorin mit ihren vier Spieler(innen) Nina Dahn, Peter Järn, Eva Rexed und Jonatan Rodriguez Einblicke in schwedische Soziokultur. Das allseits gepriesene Sozialsystem neigt auch zu übergriffigen Interventionen, wenn Helenas Sohn Simon (11) vorschnell in Schuldvermutung gerät statt umgekehrt; die Notaufnahme ist überlastet wie anderswo auch; Schutzzonen fürs Individuum werden durchbrochen. Dazu noch ein wenig Unterwelt-Mythologie (Romulus und Remus fletschen die Zähne, während der Fährmann sich in Weltflucht gefällt), und ein eindringliches Stück entfaltet Wirkung.

Intensiver Beifall

„Ambulanz“ scheint im Marguerre-Saal mit reichlich 160 Minuten Spieldauer überlang, doch das täuscht, weil das Stück die Probleme wie unter einem Brennglas verdichtet zur selbstquälerischen Innenschau. Intensiver Beifall für eine Spielweise, die kaum Ausstattung braucht und sich aufs Wesentliche konzentriert: das Ich und Du und die Ausweglosigkeit des Daseins. Die Notaufnahme wird nicht zur Rettung, sondern kann nur noch Kümmernis und Tod verwalten.

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