Festival

Auftakt des Heidelberger Stückemarkts: Zart erzählt und stark gespielt

Die 40. Auflage des "Seismographen" für Gegenwartstheater startet mit den ersten Höhepunkten „Baroque“ und „Fugue Four: Response“ - Körperbilder im Fokus

Von 
Martin Vögele
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In „Pirsch“, dem Siegerstück des Autor*innenwettbewerb“ 2022, will Marinka (Marie Dziomber, Mitte) Rache: © Susanne Reichardt

Der 40. Heidelberger Stückmarkt hat begonnen - und seinem Publikum bereits zum Startwochenende einige bemerkenswerte Bühnenerlebnisse beschert. „Wie ein Seismograph“ für das Gegenwartstheater sei es, was in den zehn Festivaltagen in konzertierter Form zu sehen ist, meint Holger Schultze, Intendant des Theaters und Orchesters Heidelberg, als er die Jubiläumsausgabe des Stückemarkts gemeinsam mit dem künstlerischen Leitungsteam Jürgen Popig und Lisa Koenen sowie Kulturbürgermeister Wolfgang Erichson eröffnet.

„Pirsch“ zur Eröffnung

Eröffnungsstück ist hiernach „Pirsch“, mit dem die Dramatikerin Ivana Sokola vergangenes Jahr den „Autor*innenwettbewerb“ des Festivals gewann. Das von Jana Vetten inszenierte Stück erzählt von der jungen Frau Marinka (Marie Dziomber), die nach 15 Jahren in ihren Heimatort zurückkehrt, in dem sie damals - beim nachgerade mythisch-archaisch die Gemeinschaft gliedernden „Fest“ - Opfer eines Übergriffs wurde.

Jetzt will sie Rache, wird zur Jägerin und verbündet sich dazu mit einem infernalisch anmutenden Rudel „hungriger Hunde“. „Pirsch“ ist eine durchaus eindrückliche Theaterarbeit, die Rotoskopie-hafte Surrealität und Kunsthaftigkeit der Sprache halten die Protagonistin dabei aber auf innerlicher Distanz. Hervorstechend: Antonia Labs als flamboyante Schaustellerin.

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Heidelberger Stückemarkt hat begonnen

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Fokus auf Körperbilder

Der Samstag startet mit der ersten Lesung des aktuellen „Autor*innenwettbewerbs“, bei der die Stücke von Caspar-Maria Russo („draußen ist wetter (oder die erfindung der straßenverkehrsordnung)“, Leonie Lorena Wyss („Blaupause“) und Lamin Leroy Gibba („Doppeltreppe zum Wald“) vorstellt. Anschließend setzen sich zwei Stücke dezidiert mit dem Festival-Fokus ins Verhältnis, der auf unterschiedliche Körperbilder und Daseinsvorstellungen gerichtet ist.

Den Auftakt bestreitet die Volkstheater-Wien- und Freie-Szene-Uraufführung „Fugue Four: Response“, in der das Regie-Duo Olivia Axel Scheucher und Nick Romeo Reimann die eigene sexuelle Konditionierung untersucht. Was sich als sportive Übung zwischen Kamasutra-Stretching und Strip-Show-Training warmläuft, entwickelt sich im Verlauf von etwas über einer Stunde zu einer hinreißenden, Gender-fluiden Ich-Exkursion, die Selbstdarstellung und Selbst-Suche verhandelt, in der das absolut exzellente Ensemble mit hintergründigem Humor der eigenen „Hotness“ Altäre errichtet, Identitäten erforscht, Zweifel und Ängste auslotet, Kontrollvermögen und Grenzen abschreitet.

Danach bringt „Baroque“ von Lies Pauwels (Konzept, Text und Regie), mit dem das Schauspielhaus Bochum beim Stückemarkt gastiert, einen faszinierenden Theaterreigen auf die Bühne des Marguerre-Saals. Gespielt wird dieser von Mitgliedern des Bochumer Ensembles und von vier gecasteten Performerinnen - Frauen, deren Gewicht über den gesellschaftlich gängigen Norm-Vorstellungen liegt. Sie erzählen zart und spielen stark, schreien sich mit ungeheurer Kraft in den Theaterraum.

Man nimmt hier nicht Profis als Profis und Laien als Laien wahr, stattdessen erschafft Lies Pauwels mit allen Mitspielenden ein fesselnd homogenes Spektakel, das wie ein multidimensionales Gemälde aus der Hand Alter Meister anmutet; wie ein Tableau vivant, das aus Körpern, Bewegung, Worten und Musik gemalt wird, das in Kostümen, Requisite, Farben und Menschen schwelgt.

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Dabei lässt die Regisseurin einen schwarzbunten Regenbogen barocker Motive aufleuchten - Lebenslust und -fülle, Tod und Vergänglichkeit. Da wird Gryphius zitiert, da erklingen Kompositionen von Purcell, Bach, Beethoven und Mozart, ebenso Pop-Stücke wie Bobby Vitons „Blue Velvet“.

Wir hören zerbrechliche Gebete („Erlöse mich von dem Wunsch, geliebt zu werden“), erleben Natur-Schelte und Institutionen-Bashing („Kirche, du bist alt“), sehen weinselige, Hermelin-ummantelte Königs-Melancholie und wunderbare Stehleiter-Tanzakrobatik. Das ist grandios und kulminiert in der tollsten Konsumgut-Modenschau (zum wundervoll schräg schnarrenden „Theme From Turnpike“ der Band dEUS), die man je gesehen hat. Pure Schönheit.

Dem Untergang entgegen

Mit munterem Tempo und schwarzhumorig guter Laune geht es an Sonntag in der für den Nachspielpreis nominierten Inszenierung „Über Leben“ des Theaters Dortmund (Regie: Ruven Bircks) dem Untergang entgegen. Das von Annalena und Konstantin Küspert geschriebene Schauspiel knüpft (teils ohne sie konkret zu benennen) in einer lockeren Folge von „Simulationen“ an Katastrophenereignisse in Geschichte und Geschichten an - an den Untergang von Atlantis und den der „Titanic“, man assoziiert den Anden-Absturz von Flug 571 im Jahr 1972 und den Massenfreitod der „Heaven’s Gaste“-Sekte 1997.

Wir folgen den mit Infos über die Homo-Sapiens-Kultur bestückten „Voyager“-Raumsonden auf ihrer menschheitlichen Vermächtnis-Reise ins All, begegnen den auf der verwaisten Erde zurückgelassenen Apokalyptischen Reitern und erleben am Ende die Geburt des Cyberspace. Lustvoll vom vierköpfigen Ensemble gespielt und simultan via Kamera auf eine Gaze-Bespannung vor der Bühne übertragen, gerät diese steile Abschussfahrt zu einem kurzweiligen Theatervergnügen.

Wie beim „Blair Witch Project“

Im Netzmarkt-Segment des Festivals wird am selben Abend die Produktion „ROT - Die Outtakes des Fabian Michael Möntges“ gezeigt, ein Film im „Found Footage“-Erzählformat, wie man es aus Produktionen wie dem „Blair Witch Project“ kennt. In dem im Rahmen des „Dramatiker*innen-Fonds“ am Berliner Ensemble entstandenen Kurzdrama von Autor Clemens J. Setz, das Regisseurin Kristina Seebruch verfilmt hat, wird gleichsam durch die Videodatenbank eines jungen Mannes (gespielt von Paul Zichner) geblättert, der sich nach einem Amoklauf in seiner ehemaligen Schule selbst das Leben genommen hat.

Dutzende Aufnahmen skizzieren den Weg zu einem „Multimedia-Manifest“, in dem Möntges die Motive seiner Tat darlegen will. Er spricht den Text wieder und wieder ein, verhaspelt sich, variiert, feilt daran, arbeitet an der Präsentation - woraus sich auch einige wirklich grotesk-komische Momente entwickeln. Im Kern bleiben die genannten, generisch angelegten Beweggründe („Ihr habt auf mir herumgetrampelt“ / „Ihr habt die Wälder getötet“) dieselben, und durch ihre Wiederholung kommt man der Figur leider nicht wirklich näher.

Freier Autor

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