Das Haus, das sich aus Nebel und Dunkelheit schält, nachdem sich der in Kreideschrift mit den kargen Notiz „Brixlegg, Tirol, 1953“ versehene Vorhang gehoben hat, rückt bedrohlich nah an den Bühnenrand. Zu groß erscheint es, sein Inneres zu leer. Dort also werden die beiden Protagonisten in Lisa Wentz’ Drama „Adern“, mit dem das Wiener Burgtheater beim Heidelberger Stückemarkt gastiert, zusammen leben.
In die „Provinz“ verschlagen
Es handelt sich um Aloisia (Sarah Viktoria Frick), die eine kleine Tochter mit einem verschwundenen französischen Mann hat. Und um Bergwerk-Arbeiter Rudolf (Markus Hering), dessen verstorbene Frau fünf Kinder gebar. Eine per Annonce angebahnte Zweckehe ist es, die Aloisia hierher in die „Provinz“ führt, wie ihre Schwester Hertha (Andrea Wenzl) den Ort nennt, in dem die Leute offenbar gern und dann nicht gut über die anderen reden.
Nachgerade asketisch nüchtern, auf den Wesenskern des (exzellenten) Textes reduziert, inszeniert David Bösch die Uraufführung des Schauspiels, das die österreichische Nachkriegsgeschichte einer Familie über mehrere Jahrzehnte erzählt. Es berichtet auch davon, welche Narben die Figuren aus dem Krieg mit in eine Zukunft tragen, in der Tochter Theres (Elisa Plüss) erwachsen geworden ist.
Bezwingend nuanciert und tiefenscharf spielen sich Hering und Frick durch das steinige, von feinen Humor-Flözen durchzogene Zusammenwachsen des Paares. Frick wurde für ihre Rolle – ebenso wie Autorin Wentz – mit dem Nestroy-Theaterpreis 2022 ausgezeichnet.
Eindrucksvoll ist ebenso Daniel Jesch, der Rudolfs Freund und ewigen Spielschuldner Danzel verkörpert: Ein Mann wie ein verwitterter Fels, der sich zerschmettert und schwankend im Alkohol auflöst.
Beide teilen die erdrückende Erinnerung an eine im Krieg aus dem Bergleib geschürfte Schuld, die Rudolf in wiederkehrenden schauerlichen Alpträumen heimsucht. Vielleicht sind diese etwas melodramatisch in Szene gesetzt, mit Hall in der anklagenden Bergseelen-Stimme (abermals: Elisa Plüss), Schreien, Hammerschlägen, Explosionsdonner. Aber seine Wirkung verfehlt das nicht. „Adern“ ist großes Sprechtheater.
Schwer und leicht und wunderbar wild im Herzen ist ein Stück, das am selben Tag zu sehen ist: die für den Jugendstückepreis des Festivals nominierte Uraufführung von „Out There“ von Stanislava Jevic nach einer Idee von Dominique Enz, die das im Zuge eines Postgraduiertenprojekts entstandene Stück des Jungen SchauSpielHauses Hamburg auch inszeniert.
Schmerzliche Brüche
Angelina (Alicja Rosinski) verliebt sich darin auf einer Klima-Demo nach einem kurzen Blickwechsel in Leo (Emma Bahlmann). Den Kontakt knüpfen beide zunächst über Chatnachrichten. Angelina, Vorzeigeschülerin und Klimaaktivistin, erfährt dabei, dass Leo genderfluid ist und in einer Patchwork-Familie lebt.
In der von großer Poesie und Zartheit getragenen Aufführung, die sich über drei Spielorte erstreckt –beide Zwinger-Bühnen und deren Hof –, nähern sie sich einander an, entfernen sich in schmerzlichen Brüchen wieder. Aber zumindest in einem der Paralleluniversen, über deren mögliche Existenz sie einmal gesprochen haben, gibt es ein Happy End für die beiden.
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