Heidelberg. Die Welt spricht über dieses und sechs weitere Bilder: Ein kleiner Junge, der mit einem Judogriff einen viel älteren Mann zu Boden bringt. Dieses Kunstwerk des britischen Künstlers Banksy in Kiew ist auf die Wand eines zerstörten Kindergartens aufgebracht. Das Gesicht des Älteren bleibt verborgen, Stirn und Haaransatz erinnern aber an den russischen Präsidenten. Ulrich Blanché vom Institut für Europäische Kunstgeschichte ist sicher: Banksy, der seine wahre Identität vor der Öffentlichkeit verbirgt, muss seinen Kunst-Einsatz in der Ukraine sehr gut vorbereitet haben - und er riskierte dabei sein Leben.
Seit 15 Jahren beschäftigt sich der Heidelberger intensiv mit dem britischen Künstler, um den sich viele Mythen ranken. Bei einem Auslandsaufenthalt in Sydney (Australien) besuchte Blanché einen Workshop, in dem mit Schablonen gearbeitet wurde. Ein anderer Teilnehmer sprach den Heidelberger auf Banksy an - und der fing Feuer, als er in einer Buchhandlung das Werk „Wall & Piece“ von Banksy durchblätterte und sich gar nicht mehr davon trennen wollte. Zurück in Deutschland widmete er später seine Abschlussarbeit dem Streetart-Künstler aus Bristol. „Ich bin dankbar, dass meine Generation sich diesem Thema ernsthaft wissenschaftlich widmen durfte“, blickt Blanché zurück - bei der Generation davor hätte man möglicherweise noch den Kunstwert der gesprühten Bilder angezweifelt.
Wie mag Banksy in die Ukraine, mitten ins Kriegsgebiet, gekommen sein? Blanché hat sich sehr intensiv mit der Arbeitsweise und möglichen Motivation befasst. „Er war sicher mindestens zwei Wochen vor Ort, hat Orte ausbaldowert, ein Team organisiert und um das Sprühen der Bilder kleine Inszenierungen vorbereitet“, ist Blanché sicher.
Dass Banksy in der Luxus-Limousine über die Grenze reist, den Kofferraum voller Farben und Leitern, hält er für unrealistisch. „Er hatte vermutlich gar nichts dabei, was ihn bei einer Kontrolle belastet hätte.“ Die vorbereiteten Bilder habe er wohl allenfalls auf einem Computerstick gespeichert und dann vor Ort ausgedruckt, um die Schablonen herzustellen, mit denen er die Bilder in kürzester Zeit auf die Wände übertragen konnte. „Auch die Farbdosen hat er sich sicher erst in der Ukraine besorgt.“
Positiver Impuls
Banksys Arbeiten seien immer mit einer politischen Botschaft versehen. In diesem Fall: „Die Bilder sollen Hoffnung geben.“ Mit den Berichten über den Besuch des Künstlers kämen zudem positive Nachrichten aus dem Land, dem ein schrecklich harter Winter bevorstehe. Der Zeitpunkt kurz vor Weihnachten spreche sehr für den Künstler, dessen Bild „Mädchen mit Ballon“ sich 2018 bei einer Auktion zum Entsetzen der versammelten Kunstsammler selbst schredderte.
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Die ersten Gerüchte um die Aktion in der Ukraine erreichten Blanché bereits am 5. November. Zuerst habe sich Banksy zu einem Bild bekannt, indem er es auf seinem Instagram-Kanal zeigte - der bis dahin übliche Weg, seine Kunst bekannt zu machen. Inzwischen gibt es an gleicher Stelle ein Video, das insgesamt sieben Arbeiten in der Ukraine zeigt.
Orte sehr bewusst gewählt
Banksy gehe es nicht darum, „irgendwo“ Bilder zu hinterlassen. „Er sucht sich stets Orte heraus, die signalträchtig sind“, weiß der Heidelberger Kunstexperte. Zum Teil findet Banksy seine Stoffe wohl auch bei der Zeitungslektüre daheim: So habe er in einer britische Zeitung möglicherweise über die elfjährige ukrainische Turnerin Katya Dyachenko gelesen, die durch einen Raketeneinschlag getötet wurde. Über einem Loch in einer Wand lässt Banksy jedenfalls eine Turnerin, die der Getöteten ähnlich sieht, einen Handstand machen.
„Mir geht es darum, was die Kunstwerke aussagen wollen?“, leitet Blanché seine Interpretation ein. Die spannenden Fragen zur Person des Künstlers rückten dabei eher in den Hintergrund. Im Fall der Gymnastin ist sich der Heidelberger sicher, worauf Banksy die Welt hinweisen möchte: Hier verliert ein Land seine Jugend, seine Hoffnung - Menschen, die etwas Großes hätten werden können. So wie die Turnerin Katya, die als Olympiahoffnung gehandelt wurde.
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