Murals

Von Mural zu Mural: Wie ein Experte aufs Mannheimer Urban Art Museum blickt

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Das bisher jüngste Mural mit dem Namen "Primal Truth" des international bekannten Künstlers Nychos beschreibt Geist und Wiederkehr in der Meditation und der Verbindung zum Wolf. Die Arbeit ist seit wenigen Monaten in der Neckarvorlandstraße 17-19 zu bewundern. © Alexander Krziwanie

Mannheim. Wer mit Ulrich Blanché durch die Stadt läuft, muss an vielen Ecken und Orten plötzlich anhalten und umdrehen. „Hier“, sagt er dann, nur als Beispiel, zu mir, „das ist ja super interessant. Das ist von Louva, Louva aus Mannheim, die ist eine der wenigen Street Art-Künstlerinnen. Meistens sind das Männer. Die macht sehr interessante Sachen.“ Blanché ist entzückt und zückt sein Smartphone. Er geht in die Hocke und macht sofort ein Bild des von Louva bearbeiteten, ziemlich versifften Stromkastens der MVV in der Zeppelinstraße im Norden von Mannheims Neckarstadt-West: ein Frauenkopf mit einem roten Kreuz auf einer Art Helm ist darauf zu sehen, eine „68“ und der provokante Schriftzug  „Beischlaf gefällig?“

Ein Werk Louva auf einem Stromkasten. © Stefan M. Dettlinger

Mannheim, Spätoktober 2021. Blanché liebt das Illegale, sagt er, das Provokante. Der Spezialist für die Geschichte des Stencils, also die Schablonen- und Sprühtechnik, in der Street Art ist mit mir auf Tour zu seinen sieben Favourits des neu zusammengefassten Mannheimer „Open Urban Art Museums“. 32 Murals international agierender Künstler versammelt es über den gesamten Stadtraum bereits zu einem gigantischen Freilichtmuseum, das man im Grunde am besten mit einem Fahrrad besucht. Die Wege sind teils sehr weit – in unserem Fall geht es auch auf die ferne Vogelstang, wo das größte der Mural an einem 14-stöckigen Hochhaus prangt: die zerknitterte, zerfurchte „Vera“ aus Sibirien, ein gigantischer Kopf in Schwarzweiß des Koblenzer Künstlers Hendrik Beikirch. Unsere gemeinsame Geschichte beginnt aber viel früher am Tag: um 8.30 Uhr in der Tiefgarage des Mannheimer Hauptbahnhofs.

1. Kapitel
Der Rhythmus in „Rhythm“ (2015) von Stohead in S5, 12-17

Ich hole Blanché dort unten ab. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Aber wir haben uns geschrieben und auch schon mehrere telefonische Interviews zusammen gemacht – zum Beispiel über das geschredderte Bild von Banksy, das irgendwann ins Museum Frieder Burda reiste. Blanché ist ein jugendlicher Typ mit Kord und Turnschuhen, der mit Maske am Ort der Abmachung zwischen den beiden Parkautomaten steht. Man erkennt sich sofort. Ich halte an und frage: geimpft? Geimpft, sagt er und steigt, während er sich die Maske auszieht, in mein E-Auto. Es geht los. Wir fahren die Rampe hoch und über den Friedrichsring nach Norden, machen U-Turn auf Höhe des Nationaltheaters und biegen dann zwischen den Quadraten R und S ein. Unsere erste Station ist „Rhythm“ von Stohead. S5, 12-17. Hinter Stoehead, was ja ein bisschen wie Stonehenge und ein bisschen wie Stonehead klingt, verbirgt sich der Berliner Christoph Hässler, 1973 in Schwäbisch Hall geboren.

Ulrich Blanché vor „Rhythm“ (2015) von Stohead in S5, 12-17 © Stefan M. Dettlinger

Wie schaut ein Spezialist auf so ein Werk, das sich recht wild und amorph in Grau, Weiß, Orange und Blau über die gesamte Hauswand bis hinauf in den 4. Stock und unters Dach erstreckt? Natürlich lässt Blanché sofort Fachbegriffe sprudeln: Liquid Smoke sei hier zur Anwendung gekommen, sagt er mit leichtem Fränkischen Akzent – schließlich kommt der Mann aus Erlangen. Das Ganze sei ziemlich kalligraphisch und ornamental, aber nicht lesbar. „Graffiti und Street Art ist hier schon zu spüren“ sagt er und auch: „Es ist interessant, dass er im Projekt dabei ist, weil Stohead eher etwas sperriger und doch auch düster ist.“ Blanché denkt nach. Ein paar Passanten gehen vorbei und schauen sich das Ding an – auch, weil wir die ganze Zeit dort hoch schauen. Der Titel „Rhythm“ kann sich eigentlich nur auf die arabesken horizontalen Linien beziehen, die einen Bildrhythmus vorgeben, der regelmäßig ist und auch nicht, so, wie das Werk als solches irgendwie geordnet und gleichzeitig chaotisch wirkt. „Das passt super zu Mannheim“, sagt Blanché da – düster, sperrig, chaotisch und gleichzeitig geordnet.

Unsere nächste Station ist nicht weit und führt zwar nicht zu den englischen Bobbies, wohl aber zu einer Truppe, die sich The London Police nennt. Wieder der Ring. K3, K4, J4, J5, J6, K6. Johannes-Kepler-Schule. Parkplätze gibt es dort keine. Ein paar Leute stehen vor dem Bürgerdienstgebäude herum. Wir stellen uns direkt daneben und damit ins Parkverbot und machen die Warnblinkanlage an.

2. Kapitel
Die drei Hunde in „900 Dogs By A Chocolate Factory“ (2018) von THE LONDON POLICE in K6,1

„900 Dogs By A Chocolate Factory“ (2018) von THE LONDON POLICE in K6,1. © Stadt.Wand.Kunst

Leider ist das große längliche Mural der Künstlergruppe The London Police durch Baucontainer kaum sichtbar. Wir gehen nah an den Bauzaun und sehen die drei dekorativen Hunde vor der urbanen Skyline mit Gebäuden, die unten rum aussehen wie – Maschinen oder Roboter. Der erste Hund trägt eine „9“ auf dem Fell, die anderen beiden eine „0“. Die Linien sind fett, die Farben flach, die helle Sonne auf dem Bild sehr gelb. Das Ganze ist ein bisschen comicartig, fast Walt-Disney-haft und reichlich naiv an der Oberfläche. Was es mit der 900 im Titel „900 Dogs by a Chocolate Factory“ auf sich hat, wird uns nicht klar, dass die Schokinag und ihr Geruch nicht weit sind, schon eher. Blanché nennt die Hundefiguren „Lads“. Warum hat er dieses Mural ausgewählt? „Ich kenne die Leute noch aus der Zeit, als sie illegal unterwegs waren, also Street Art gemacht haben und nicht Urban Art“, sagt er. Urban Art ist legal. The London Police - oder kurz TLP, was auch in jedem Hund drinsteht – haben schon in den 1990ern in Amsterdam angefangen, kommen ursprünglich aber aus London. Blanché ist ihnen Mitte der 2000er Jahre begegnet.

Blanché erklärt, dass die Urban Artists mit ihren Werken oft in Dialog mit der Umgebung treten wollen – entweder mit der Natur, der Stadt, dem Gebäude oder den Menschen. Und genau das werden wir nach einer zehnminütigen Fahrt deutlich gesehen haben. Wir gleiten über die Jungbuschbrücke, ich zeige dem Heidelberger Blanché, der von Mannheim nicht viel mehr als das Nationaltheater kennt, die Schokinag und biege irgendwann in die Riedfeldstraße ein. Es geht vorbei an Mannheims Rotlichtviertel, der Lupinenstraße, hinein in die Ackerstraße zur Itzsteinstraße…

3. Kapitel
Die kochende Welt in „Jump Through time“ (2018) von WAONE INTERESNI KAZKI  in der Itzsteinstr. 1-3 (Rückseite)

… wo uns nach dem Parken erst mal zwei giftig kläffende Köter mit gefletschten Zähnen begrüßen – der eine an einem Spielplatzzaun angeleint, der andere… gar nicht. Blanché zeigt sich furchtlos. Ich auch. So gehen wir also einfach über Gehwege, Grünanlagen, den Spielplatz auf die Rückseite des Gebäudes 1-3 und unsere Restangst hinweg. Der „Sprung durch die Zeit“, wie unser nächstes Ziel heißt, ist nicht leicht zu finden, obwohl man ihn von der Hochstraße nach der Jungbuschbrücke schon sehen kann. Das findet Blanché auch interessant: „Die vielen flüchtigen Blicke der Autofahrer, die hier täglich vorbeifahren, werden sich nach und nach zu einem intensiven Austausch mit Waones Werk ergänzen. Waone spricht er aus wie englisch Wa One, also Wa eins. Der ukrainische Künstler, der eigentlich Vladimir Manzhos heißt und aus Kiew stammt, hat sich frappierend mit den Bäumen und Sträuchern der Umgebung auseinandergesetzt. An den Rändern und oben ist aus manchen Perspektiven der Übergang sogar frappierend. Blanché ist begeistert.

„Jump Through time“ (2018) von WAONE INTERESNI KAZKI in der Itzsteinstr. 1-3 (Rückseite). © Stefan M. Dettlinger

Waone ist die Generation nach The London Police, so Blanché. Sein Werk, auf dem Teile von Figuren in recht knalligen Farben in einer natürlichen Umgebung unterwegs sind, wirkt auf den ersten Blick surreal und erinnert an Salvador Dalí. Nicht von der Maltechnik, sondern von der Komposition. Stilistisch muss man beim Blick auf die Pflanzen an den naiven französischen Maler Henri Rousseau denken, etwa an dessen „Der Traum“, das dem MOMA in New York gehört. „So knallig hätte man das früher sicher nicht gemacht. Da erkennt man sofort, dass der Künstler jünger ist“, meint Blanché und geht ein paar Schritte zurück. Der „Jump through Time“ ist gekennzeichnet von springenden Beinen, einer Uhr und einer Blechtrommel, die das Ticken der Uhr ohne Zeiger imaginiert. Alles sei mit dem Pinsel gemalt, nichts ist gesprüht wie bei der Street Art üblich. Eigentlich sei es ein klassisches öffentliches Wandgemälde, sagt Blanché, und da es durch seine Platzierung vor allem vom Auto aus zu sehen ist, könne man hier auch von einer Art Road Art sprechen, meint er.

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Unser Interesse weckt aber auch die Figur ganz links. Sie ist die einzige, die mehr oder weniger vollständig ist. Sie wurde in den wärmsten Farben gemalt. Gelb. Orange. Rot. Lila. Der Kopf steckt hinter einer rauchenden Amphore oder einem riesigen Erlenmeyerkolben, auf dem die Kontinente, Längen- und Breitengrade zu sehen sind. Ein Globus als Erhitzungsinstrument. Der Mann rennt, die Erde brennt. Dass das ziemlich unmissverständlich ein kritischer Blick auf unseren Klimawandel und die Erderwärmung ist, dem stimmt Blanché sofort zu. Zudem: die Uhr tickt. Auch unsere Uhr tickt. Wir machen noch ein Foto, dann geht es zurück zu den Kläffern und in Richtung Norden.

4. Kapitel
Das entfaltete Haus in „Stairway To Heaven“ (2020) von BOND TRULUV in der Zeppelinstraße 32-34

Im Über-die-Straßen-Rauschen lernen Blanché und ich uns etwas kennen. Er fragt mich, was ich studiert habe, und als ich sage, dass ich Pianist bin und auch Gesang und Komposition studiert habe, sagt er: „Ich habe Bratsche gespielt – aber ich war nicht besonders gut. Zuhause bei seinen Eltern stehen ein Flügel und ein Cembalo. Blanché kommt aus einem Bildungshaushalt, was mich zu der Frage verleitet: „Was sind das für Leute, die illegal nachts Sachen an Wände sprühen?“ Blanché glaubt nicht, dass es da eine einfache Antwort gebe, mehr: Er ist sich recht sicher, dass die Leute aus allen Schichten kommen.

Mein Interesse weckt aber seine Erzählung, wie Banksy arbeitet. „Manchmal ist das wie bei George Clooneys ‚Ocean’s Eleven‘“ sagt, „Banksy arbeitet teilweise mit zehn Leuten zusammen, um ein neues Werk an eine Mauer zu sprayen.“ Und dann schildert Blanché die Szene, die tatsächlich wie aus einem Krimi-Thriller klingt: Banksys Truppe würde zwei Lastwägen mieten, dann würden zwei Fahrer aufeinander zufahren, anhalten und sich lange wild anschreien. Während das nicht nur die Straße blockiert, sondern auch die ganze Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zieht, hat Banksy dann Zeit, auf einem geschützten Gerüst mit Schablonen und Spraydosen ein neues Mural zu schaffen. Faszinierend. Dass auf diese Weise andere Dinge entstehen als das, was uns gleich erwarten wird – es versteht sich von selbst.

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Die Zeppelinstraße sieht an diesem Donnerstagmorgen nicht sonderlich einladend aus. Wenige Menschen. Viel Kälte. Der ideale Moment, eine Treppe in den Himmel zu nehmen: „Stairway to Heaven“ von BOND TRULUV. Blanché sagt sofort, dass Truluv wie „true love“ ausgesprochen werde, solche Schreibweisen sind in der Szene wohl normal. Blanché bewundert die handwerkliche Kunst des Leipzigers, der illusionistisch dreidimensionale Sci-Fi-Welten entwirft, die aber, so Blanché, hierher passen. Sein Mannheimer Werk spielt mit dem Gebäude dahinter, in das man mit dem Blick auf „Stairway to Heaven“ scheinbar hineinblickt. „Sogar die Stockwerkshöhen passen“, sagt Blanché. Treppen, herausragende Teile, Nasen, eine griechische Säule, Rohrteile und eine andere Welt spiegelnde Bubbles prägen das Bild, das letztlich doch nicht lügen oder täuschen will, denn ein Maus-Zeiger am rechten Bildrand sagt: „Keine Angst: Ist alles nur am Computer gestaltet!“ Hier, direkt vor der „Stairway to Heaven“, entdeckt Blanché auch das oben erwähnte Werk von Louva, stellt und setzt sich glatt auf den Stromkasten, wo er auch fotografiert werden will.

„Stairway To Heaven“ (2020) von BOND TRULUV in der Zeppelinstraße 32-34. © Stefan M. Dettlinger

Für ihn ist in BOND TRULUVS Werk „das Innere des Hauses nach außen gefaltet“. Er verweist darauf, dass Led Zeppelins „Stairway to Heaven“ der Lieblingssong von vielen Menschen ist. Ach damit hole BOND TRULUV die Menschen an einer Basis ab, überzeuge aber immer mit tadelloser handwerklicher Meisterschaft. Blanché: „Ich mag dieses Illusionistische daran schon. Es ist Überwältigungskunst.“ Dass der Künstler aus dem Graffiti-Kontext kommt, sieht der Spezialist dann an einer Sache: Die Hausnummer 32-34 wurde einfach teilweise übermalt. „Diese Respektlosigkeit, das Brechen von Regeln, das kommt aus dem illegalen Bereich, der Street Art“, sagt er. Für den Postboten hat BOND TRULUV freilich auf einen der hervorragenden Plattformen die Nummern nachgemalt – ein Spiel mit dem Auge.

Und wenn das Auge ein bisschen zu weit nach links driftet, findet es Nummer 5 der von Ulrich Blanché auserwählten Murals…

5. Kapitel
Die Hitze der Kulturen oder die „Multicultural Balance“ (2019) von RUBEN SANCHEZ in der Heustraße 13-17

… das „Multikulturelle Gleichgewicht“ von Ruben Sanchez, das natürlich englisch „Multicultural Balance“ heißt. Es sind nur ein paar Schritte dorthin. Super bunt wirkt das Teil schon bei Hochnebel und gefühlten fünf Grad Celsius. Wie muss das kubistische Konglomerat aus Fahrrad, Gitarre, Trompete, Mann, Frau, Pflanzen, Gelb, Rot, Blau, Orange, Schwarz und Weiß erst bei Hitze glühen und kochen. Ruben Sanchez ist Spanier. Das Auge will ordnen auf dem Bild, sucht, findet aber nur Details, die schwer zusammenzulegen sind. Es scheint sich um eine auf einem Fahrrad fahrende heitere Session zu handeln, die den Frieden des „Clash of Culture“ beschwört. Die Balance auf dem Rad ist zwar schwer zu halten angesichts all dessen, was es tragen muss – aber es scheint zu gelingen. Dass Ruben Sanchez aus der Skater-Szene kommt, steht für Blanché fest, mit dem Mural mache er die Stadt zum Spielplatz. Allerdings glaubt er nicht, dass hier die Hip-Hop-Szene der Hintergrund ist, sondern Punk. Es sei eine spielerische Art, sich den Stadtraum anzueignen. Blanché sieht Miró-Anklänge in dem Bild, Picasso, aber auch Techniken des Graphikdesigns, das Fahrrad nimmt seines Erachtens direkten Bezug zum Radweg direkt davor. Radfahrer sehen wir an diesem Morgen allerdings keine.

„Multicultural Balance“ (2019) von RUBEN SANCHEZ in der Heustraße 13-17 © Stefan M. Dettlinger

„Mir gefällt das, weil es mich an die 1950er erinnert, an die Phase, in der man viel Kunst am Bau gemacht hat“, sagt der Experte Blanché. „Es geht hier um Menschen, die etwas Positives machen. Das passt zur Gegenwart und auch wieder sehr gut zu Mannheim. Solche Kunst strahle aus: Ich will aufwerten, nicht kaputtmachen. Lasst uns eine Party feiern.

Das würden wir nun auch gern. Uns ist kalt. Um uns aufzuwärmen, suchen wir nach einem Café. Fehlanzeige. Eine Tankstelle. Eine Bäckerei. Mehr gibt es wohl nicht im unmittelbaren Umfeld.

6. Kapitel
Die tiefen Furchen oder Malen nach Zahlen in „Vera“ (2016) von HENDRIK BEIKIRCH an der Brandenburger Str. 44

So dass wir einfach Kapitel 6 aufschlagen, was 20 Minuten Autofahrt rüber auf die Vogelstang bedeutet. Der VW E-UP huscht quasi lautlos über den Asphalt. Wir reden über die Millionen Street Arter, die nie bekannt werden, die vielleicht einfach mittelmäßig und unbedeutend sind, die sich aber dennoch illegal oder halblegal unter Brücken, an Kästen und Gebäude artikulieren und sagen: Wir sind da! In der Bovaristraße Richtung B38 entdeckt Blanché an einer Fassade plötzlich wieder ein Graffiti, das ihn begeistert, weil, wie er sagt, die Schablonen so groß sein müssen. Wir drehen um. Er fotografiert.

„Vera“ erwartet uns aus der Nähe. Sie blickt uns durch einen Wald an gelben, orangefarbigen und roten Blättern an. Blanché ist enttäuscht. Man sieht nur einen Teil des größten Murals von „Stadt.Wand.Kunst“. Das Bild, das man freilich schon mal gesehen hat, muss wohl von einer Drohne auf der anderen Seite der Bundesstraße aufgenommen worden sein. Obwohl Blanché sofort davon spricht, dass so ein Riesenteil recht schematisch und nichts anderes sei als „Malen nach Zahlen“, hat er es ja selbst ausgewählt. Aus der Nähe betrachten wir die tiefen Furchen des in Schwarz-Weiß gehaltenen Gesichts auf Basis einer Fotografie. Schwarze Farbe hat Rinnspuren hinterlassen. Das ist Absicht. „Die Gesichter von alten Menschen haben immer etwas zu sagen. Da entsteht Tiefe und eine Erzählung.“

„Vera“ (2016) von HENDRIK BEIKIRCH an der Brandenburger Str. 44. © Stadt.Wand.Kunst

Später, als wir auf der anderen Straßenseite der B38 auf dem Standstreifen halten, sieht man etwas mehr. „Ich finde, das passt sehr gut zu Mannheim, zu dieser Stadt, die alles Schmückende ablehnt“, sagt mein Beifahrer zu Hendrik Beikirchers Kopf, der einer aus einer ganzen Serie von Köpfen seiner sogenannten Sibirienserie ist. Blanché zufolge gewinnt die Hausfassade durch Beikirchers Mural, „die Leute hier können jetzt auch sagen, wenn sie jemandem erklären, wo sie wohnen: Es ist das Haus mit dem großen Gesicht drauf.“

Wir sind auf der Zielgeraden.

7. Kapitel
Der Alarmruf nach Ruhe in „Silence“ (2020) von SOURATI an der Fassade von in O4, 2 (Bücher Bender)

Und sie führt uns ins Zentrum, wo es naturgemäß extrem schwierig ist, einen Parkplatz zu finden. Wir fahren also am Dalbergplatz ins Parkhaus auf die „Dachterrasse“ und Blanché wirft erst mal einen faszinierten Blick in die Tiefe. Großstadt-Atmo. Zu Fuß gehen wir erst hinüber in die Kunststraße, dann zur Ecke mit dem Café Boland‘s, wo wir, bevor wir den Besitzer um den Zugang auf sein Dach fragen, um das finale Mural an der Brandmauer zur Buchhandlung Bender anzuschauen, endlich die wärmende Phase unserer Urban Tour machen können. Ein Croissant und ein heißer Kaffee trennen uns noch von „Silence“ des Künstlerinnenduos Sourati, hinter dem sich die Mannheimerin Christina Laube und der Mannheimer Mehrdad Zaeri verbergen. Im Boland’s ist sogar einiges los. Blanché macht Zucker in seinen Kaffee und entschuldigt sich dafür. Bei Tee hätte er es schon in die Zuckerlosigkeit geschafft, sagt er, bei Kaffee nicht.

Wir fragen. Der Besitzer ist sehr freundlich und schickt uns nach oben zu einem weiteren freundlichen Herrn, der uns durch die Toiletten und einen Notausgang auf eine Terrasse führt, von der aus eine Leiter aufs Dach führt. Riesige Metallrohre, Dunst- oder Luftabzüge und Ventilatoren versperren einem dort oben den Weg. Im Zickzack geht es auf gebührenden Abstand zu „Silence“, das man freilich auch von der Kunststraße aus einigermaßen sehen kann, aber nicht in voller Pracht wie von hier oben. Der Straßenlärm, das Gebläse und die Menschen unten machen es deutlich: Die etwas naiv gehaltene flächige Frau im langen Kleid, die sich dem Dach entlang zum First hin krümmt und ein Glöcklein an einer Schnur hält, bittet um – Ruhe. „Silence“ steht direkt unterhalb des Glöckleins. Schlichter, direkter, hier aber auch poetischer kann Kunst nicht sein. Sourati haben nicht einmal die Hauswand darunter in ihrer Farbigkeit verändert und einfach Schwarz draufgesetzt. Faszinierend – vor allem auch vor dem Hintergrund, dass die Kunststraße immer wieder von idiotischen Menschen, den sogenannten Posern, nachts zum motorischen Krachmachen animiert. Leider werden solche Menschen einen Blick dorthin nach oben, wohl kaum machen. Die glotzen allenfalls auf den Tachometer. Kein Streetart-Background, keine Schablonen, keine Sprühdosen, stellt Blanché fest. Es sei eine kleine, leise Arbeit, nicht schrill und face-to-face, vielleicht ein bisschen kitschig, aber schön.

„Silence“ (2020) von SOURATI an der Fassade von in O4, 2 (Bücher Bender). © Stefan M. Dettlinger

Hier machen wir dann noch ein kleines Video-Interview und lassen die vergangenen vier Stunden nochmals Revue passieren. Er erläutert dabei auch noch seine geäußerte Vorliebe für die illegale Street Art, weil sie direkter, gefährlicher und provokanter ist. „Urban Art“, so Blanché, „braucht immer viele Genehmigungen, die Stadt, die Bewohner, die Eigentümer. Heraus kommt dann doch sehr oft eine Ästhetik des geringsten gemeinsamen Nenners, etwas, das nicht allzu sperrig, schwierig und kritisch sein darf“. Das leuchtet ein. Den kriminalistischen Thrill eines Banksy erreicht man mit lange geplanten legalen Kunstaktionen sicherlich nicht.

Blanché eröffnete mir einen mir bislang weitgehend verschlossenen Kosmos und auch die Tatsache, dass das Open Urban Art Museum Mannheim tatsächlich international mit ähnlichen Projekten in den Weltmetropolen mithalten kann. Ich bringe Blanché also wieder zum Beginn unseres Kennenlernens zurück: zur Tiefgarage des Hauptbahnhofs. Bestimmt entdeckt er auf dem Weg zu den Gleisen, auf denen die Züge nach Heidelberg fahren, neue Street Art, die er fotografieren wird. „Mir hat’s Spaß gemacht und gelernt hab ich auch“, wird er einen Tag per SMS mitteilen. Das kann ich nur erwidern.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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