Rhein-Neckar. Die Lage der Gemeinden ist ins Zentrum der politischen Agenda gerückt – spätestens seit den Kommunalwahlen dieses Jahres, zunächst in Ostdeutschland, vor kurzem in NRW, als in den Zentralen der demokratischen Parteien die Wände wackelten. Ein guter Zeitpunkt für den Gemeindetag Baden-Württemberg, sich zu Wort zu melden. Zum Tag der Deutschen Einheit veröffentliche die Vertretung der 1.065 Kommunen einen Brandbrief an die Bürger. Er gipfelt in der Feststellung: „Die Summe an staatlichen Leistungszusagen hat ein Maß erreicht, das mit den verfügbaren Ressourcen nicht mehr erfüllbar ist.“
Nun ist das Thema nicht neu; seit 40 Jahren gibt es keine Veranstaltung, bei der kommunale Vertreter bekundet hätten, ihnen gehe es finanziell gut. Doch nun hat die Krise eine neue Qualität. „Integration, Energiewende und Katastrophenschutz sind hinzugekommen“, sagt Ralf Gänshirt: „Wer hat sich vor 20 Jahren darum gekümmert?“, ergänzt Hirschbergs Bürgermeister. Für Klimaneutralität etwa müsse seine Gemeinde in den kommenden Jahren 20 Millionen Euro ausgeben.
Immer mehr Aufgaben in den Kommunen führen zu höheren Personalkosten
Benjamin Köpfle kann ergänzen. Der 35-Jährige ist seit sechs Jahren Rathaus-Chef in Laudenbach, aber auch Vorsitzender des Bürgermeister-Sprengels, dem Gemeinden zwischen Edingen-Neckarhausen und seinem Ort sowie – aus historischer Tradition – auch das südhessische Viernheim angehören.
In den letzten vier Jahren sind die Personalkosten in seiner Gemeinde (6.500 Einwohner) um eine Million Euro gestiegen. Das zwang ihn, Personal abzubauen, etwa zehn Prozent: „Obwohl wir doch eigentlich mehr Personal bräuchten.“ Gleichzeitig müssen Gebühren erhöht werden. Und trotzdem können 70 bis 80 Prozent der Gemeinden ihre Haushalte nicht mehr ausgleichen.
Matthias Baaß hat ebenfalls konkrete Zahlen. Der 63-jährige Sozialdemokrat ist ein Urgestein der Kommunalpolitik in der Region, seit 28 Jahren Bürgermeister in Viernheim. Er berichtet, dass die Kosten für die Kinderbetreuung in seiner Stadt in den letzten zehn Jahren von fünf auf 15 Millionen gestiegen sind. 60 Prozent davon muss die Stadt tragen.
Bei diesen Aufgaben handelt es sich um Pflichtaufgaben. Anderes bleibt auf der Strecke: „Frei- und Hallenbäder lassen sich nicht mehr halten, die Vereinsförderung kommt auf den Prüfstand, Öffnungszeiten in Kitas oder auch der Bibliothek müssen reduziert werden“, schreibt der Gemeindetag. Einschnitte, die der Bürger merkt. Und die ihn erbosen.
Laudenbachs Bürgermeister Köpfle: „Kann nicht im Sinne des demokratischen Staates sein“
Ralf Gänshirt zitiert eine Umfrage, wonach 73 Prozent der Bevölkerung die Handlungsfähigkeit des Staates nicht mehr als gegeben ansehen. „Das führt zu einer Stärkung der politischen Ränder“, warnt Köpfle: „Das kann nicht im Sinne des demokratischen Staates sein.“ Und dennoch: „Es ist schwierig, bei den Landes- und Bundespolitikern Gehör zu finden“, klagt Baaß: „Es fehlt das Grundverständnis für unsere Nöte.“
Dabei geht es laut Gänshirt nicht ums Geld, jedenfalls nicht primär. Doch natürlich fordern die Kommunalpolitiker die Rückkehr zum Konnexitätsprinzip. Auf Deutsch: Wer bestellt, der bezahlt. Demnach hätte der Bund also etwa den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz auch selbst finanzieren müssen.
Dann die Frage der Standards. Gänshirt nennt ein Beispiel aus dem neuen Kindergarten: Dort habe ein Netz installiert werden müssen, falls die Kinder in diesem Stockwerk über die Brüstung fallen. Kosten: 50.000 Euro.
Zentraler Punkt: die Bürokratie. Dass eine ausländische Kindergarten-Kraft in Hessen sich nach einem Wechsel wieder der gleichen Prüfungsprozedur unterziehen muss, ist für Baaß nicht nachvollziehbar.
Weniger Bürokratie sei aber auch im Umgang mit den Kommunen nötig. „In Baden-Württemberg gibt es 342 verschiedene Förderprogramme“, berichtet Gänshirt. Der Aufwand an Personal und Zeit und damit Geld ist enorm, um die geforderten Formalien für die Beantragung und den Nachweis für die erfolgte Leistung zu erbringen. „Wir müssen zum Beispiel unterschreiben, dass wir die Mittel nicht für terroristische Zwecke einsetzen“, berichtet Köpfle. „Es fehlt einfach das Vertrauen in die Gemeinden“, seufzt Gänshirt.
Bürger selbst müssen ihre Ansprüche an die Kommunen zurückschrauben
Aber ganz grundsätzlich geht es den Bürgermeistern darum, die Freiheit für ihr Handeln wiederzuerlangen, selbst zu entscheiden. „Wir wissen doch am besten, was wir brauchen“, sagt Gänshirt. Köpfle argumentiert mit der Verfassungslage: „Es gibt die kommunale Selbstverwaltung, die aber immer stärker ausgehöhlt wird.“
Aber auch die Bürger sind gefordert: „Es wird nur noch festgestellt, was nicht klappt“, beklagt Gänshirt: „Und alles, was funktioniert, ist selbstverständlich.“ Auch hier müsse ein Umdenken erfolgen: „Demokratie ist kein Bestellshop“ heißt es im Brandbrief des Gemeindetages.
Ein positives Zeichen zumindest setzt der Expertenrat, den Bundesfinanzminister Klingbeil eingerichtet hat. Dieser „Investitions- und Innovationsbeirat“ (IBB) soll das Ministerium bei der Umsetzung des 500 Milliarden Euro schweren Sondervermögens der Bundesregierung beraten. Auch um die Sichtweise der Kommunen einzubringen, gehört ihm der frühere Mannheimer Oberbürgermeister Peter Kurz an. „Ich begrüße das sehr“, sagt Baaß. Er hat Kurz’ Buch gelesen: „Da steht alles drin. Er weiß genau, worum es geht.“
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