Als ich die Pille verschrieben bekam, war ich gerade 14 geworden. Im Beratungszentrum, wo man mir innerhalb weniger Minuten eine Dreimonatspackung in die Hand drückte, gab es gratis einen Schminkspiegel dazu – in Handtaschengröße. Ich hinterfragte wenig. Der Beipackzettel faltete sich wie ein komplizierter Wanderführer zu einem Rätsel aus Kleingedrucktem aus – und nur umständlich wieder ein. Ich las ihn nie. Wer tut das schon? Fast alle Mädchen in meiner Klasse, die schon einen Freund hatten, nahmen die Pille. Außerdem versprach man mir reine Haut, gesunde Haare und große Brüste.
Der Forderung nach Verhütung liegen historisch betrachtet ökonomische Motivationen zugrunde
Was die tägliche Einnahme eines Medikaments für meinen Körper eigentlich bedeutete, war mir nicht klar. Mehr noch: Mir war nicht einmal bewusst, dass es sich bei der Pille überhaupt um ein Medikament handelte.
Die Pille gilt als ein Symbol weiblicher Emanzipation. Doch der Forderung nach Langzeitverhütung liegen historisch betrachtet vor allem ökonomische Motivationen zugrunde. Bereits seit dem 19. Jahrhundert führten Ängste vor Überbevölkerung und Ressourcenknappheit zu Bestrebungen von gezielter Reduktion der Bevölkerung. In den Arbeitervierteln europäischer Großstädte herrschte Elend – bis zu 16 Schwangerschaften im Leben einer Frau galten als normal.
Aktivistinnen wie Margaret Sanger prägten die Relevanz von Geburtenkontrolle: Aktive Maßnahmen der Familienplanung, die zur allgemeinen Verbesserung der Lebensumstände und gesellschaftlichem Wohlstand führen sollten. Im Fokus stand die Geburtenreduktion ganz bestimmter gesellschaftlicher Gruppen: arme, behinderte und nicht weiße Menschen. Als Anhängerin der aufstrebenden Eugenikbewegung in Europa und den USA war auch Sanger von sozialdarwinistischen Vorstellungen von der Optimierung der Menschenrasse geprägt. Man unterschied zwischen förderlicher und einzuschränkender Reproduktion – es kam zu Massensterilisationen.
Mitte der 1930er Jahren zeigte sich, dass sich die Fruchtbarkeit durch Verabreichung synthetischer Sexualhormone gezielt steuern lässt. Maßgeblich vorangetrieben war die Hormonforschung von den Nazis und ihren Bestrebungen nach Rassenhygiene. Ärzte wie Carl Cauberg führten grausame Experimente mit weiblichen Inhaftierten in Auschwitz durch, um die Wirkung von Hormonen auf weibliche Reproduktionsorgane zu erforschen.
Nur rund zehn Jahre später kam es zu ersten Studien mit oralen Verhütungsmitteln. Versuchspersonen waren bewusst ausgewählte Frauen aus unteren Einkommensschichten, Inhaftierte, Patientinnen einer psychiatrischen Anstalt in den USA und hunderte Frauen aus Puerto Rico. Wenig ausgeprägte juristische und medizinethische Rahmenbedingungen und der semikoloniale Status des Landes erlaubten eine besonders einfache Studiendurchführung: Die meisten Frauen, die das hoch dosierte Mittel einnahmen, wussten nicht, dass sie Teil eines Experiments waren, wurden über Nebenwirkungen im Unklaren gelassen und nicht ernstgenommen, wenn sie Schwindel, Erbrechen oder Menstruationsbeschwerden äußerten. Viele der heute als gravierend eingestuften Nebeneffekte taten die damaligen Studiendurchführenden als psychisch oder placebobedingt ab, um die Marktzulassung nicht zu behindern.
Während die Pille in Europa und den USA bis heute als gesellschaftlicher, sozialer und wissenschaftlicher Meilenstein gefeiert wird, spiegelt sich in Ländern wie Puerto Rico kein großer Erfolg des Medikaments, das die dortige Bevölkerung mit hervorgebracht hat. Die Pille war für die meisten zu teuer. Stattdessen blieb die weibliche Sterilisation das erste Mittel zur Verhütung.
Immer mehr junge Menschen entscheiden sich gegen hormonelle Verhütung – aus Angst vor Nebenwirkungen
Gewiss sind Menschen mit Uterus diejenigen, die schwanger werden und gebären. Doch das macht sie nicht automatisch zu jenen, die gesundheitliche, soziale und finanzielle Bürden von Verhütung zu tragen haben. Die kulturelle, in der Antike wurzelnde Sicht auf den menstruierenden Körper als von Natur aus kränklich, fehlerhaft oder „hysterisch“ – allgemein als eine Art „Mangelversion“ vom Mann – in Kombination mit einer Gesellschaftsstruktur, in der bis vor kurzem ausschließlich Männer forschten, mündet in einem anhaltenden Ungleichgewicht in Gesundheit und Forschung.
Während Frauen als Versuchs- und Durchführungsobjekt einerseits in den Mittelpunkt der Reproduktionsmedizin gerückt wurden, werden sie in anderen Bereichen der Medizin als „Sonderfall“ behandelt. Herkömmliche Arzneimittel gegen Krankheiten wie Alzheimer, Depressionen oder Herzprobleme werden nach wie vor überwiegend an männlichen Körpern getestet und entwickelt – und das, obwohl Frauen häufiger daran erkranken.
Die Gastautorin
Franka Frei wurde quasi aus Versehen zur Expertin auf einem Gebiet, das sie seitdem nicht mehr loslässt.
Seit ihre Bachelorarbeit in den sozialen Medien bekannt wurde, hält sie Vorträge über die politischen Dimensionen der Menstruation und steht bei Science Slams in Begleitung eines menschengroßen Tampons auf der Bühne.
Im Jahr 2020 erschien das populärwissenschaftliche Sachbuch „Periode ist politisch. Ein Manifest gegen das Menstruationstabu“, 2021 folgte der Debütroman „Krötensex“.
Neben der Arbeit als freie Journalistin für diverse Medien ist Franka Frei im Podcast „Tabufrei“ zu hören, studiert Gender Studies an der Humboldt Universität in Berlin und setzt sich zusammen mit dem Berliner Verein Periodensystem gegen Periodenarmut ein. Auf Instagram informiert sie regelmäßig über Themen rund um Sexualität und Geschlechterfragen (@frankafrei).
Seit der Einführung der ersten Antibabypille hat sich kontrazeptionstechnologisch wenig getan. Zwar wurden allgemein zahlreiche hormonelle sowie einige nicht-hormonelle Kontrazeptionsmittel entwickelt, doch alle erhältlichen Produkte, die langfristig und reversibel vor Schwangerschaften schützen, sind auf den Körper mit Uterus ausgerichtet. Dabei beweisen unzählige Forschungsversuche bereits seit den 1950er Jahren, dass „männliche Verhütung“ durchaus möglich ist. Vergleichbar zu verschiedenen Hormonpräparaten mit unterschiedlichen Dosierungen sowie nichthormonellen Alternativen für Frauen gibt es auch für Männer eine breite Palette an Möglichkeiten, die Fruchtbarkeit langfristig und reversibel einzuschränken. Doch gegenwärtig ist kein einziges Mittel, mit dem Männer langfristig, sicher und vollständig reversibel verhüten können, zugelassen. Die männliche Kontrazeptionstechnologie leidet an chronischer Unterfinanzierung – warum auch ein System ändern, das seit 60 Jahren gut läuft?
Bereits Anfang der 1960er Jahre kritisierten US-Feministinnen, dass die Pille ohne weitere Informationen zu Nebenwirkungen verschrieben wurde. Ärzte würden aufgrund von monetären Reizen durch die profitorientierte Pharmaindustrie und Zeitdruck nur unzulänglich informieren.
Bis heute ist die orale Kontrazeption weltweit ein Milliardenmarkt. Die Pille, die ich mit 14 verschrieben bekam, ist mittlerweile dafür bekannt, dass sie besonders häufig zu lebensgefährlichen Thrombosen und Lungenembolien führt. Offizielle Zahlen gibt es nicht.
Nach wie vor schluckt knapp die Hälfte der Frauen im reproduktiven Alter in Deutschland jeden Tag die Pille. Doch immer mehr junge Menschen entscheiden sich gegen hormonelle Verhütung – oft aus Angst vor Nebenwirkungen wie Depressionen. Nach wie vor fehlt es an sauberen Studien, die Zusammenhänge prüfen. Sicher ist: Panik ist kein guter Begleiter. Jedes Mittel zur Kontrazeption bringt Vor- und Nachteile mit sich. Hormone zur Kontrazeption gelten als besonders sicher und Studien mit hormonellen Mitteln zur männlichen Kontrazeption zeigen sich als besonders fortgeschritten. Hormone zu verteufeln ist also nicht der richtige Weg, wenn das Ziel reproduktive Gerechtigkeit sein soll.
Kein Mittel zur Verhütung ist perfekt. Umso wichtiger ist es zu wissen, welche Mittel es gibt und zu verstehen, wie sie funktionieren. Es braucht insgesamt bessere Verhütung für alle, wie die Initiative Better Birth Control fordert. Denn im Sinne reproduktiver Gerechtigkeit haben alle Menschen – unabhängig von Herkunft und Geschlecht – das Recht darauf, frei zu entscheiden, ob sie Eltern werden wollen oder nicht.
Dass Frauen keine andere Option gelassen wird, als die komplette körperliche, seelische, zeitliche und oft auch die finanzielle Verantwortung für nebenwirkungsreiche Kontrazeption zu übernehmen, während es Männern an Möglichkeiten zur Übernahme von Verantwortung und Kontrolle fehlt, ist alles andere als feministisch. Denn Feminismus bedeutet, die Wahl zu haben.
Die Pille ist ein kapitalistisch-patriarchales Projekt, das sich als feministisch verkauft
Oft heißt es, die Pille habe Frauen von einer Art natürlichem Gebärzwang befreit – sie sollten sich glücklich schätzen. Was dabei vergessen wird: Frauen werden nicht einfach so schwanger. Nicht die Natur zwingt sie zum Gebären. Das Problem liegt in einer Gesellschaft, die Frauen zu Sex und Reproduktion drängt, mit den Konsequenzen alleine lässt und das als natürlich darstellt. Nach dem Motto: Hätte das Dummerchen mal besser die Pille genommen.
Klar sind Nebenwirkungen wie Libidoverlust, Depressionen und Stimmungsschwankungen das kleinere Übel zu 15 potenziell ungewollten Schwangerschaften, restriktiven Abtreibungsrechten, Stigmata und mangelnder Unterstützung für Alleinerziehende. Doch von einer freien Entscheidung dafür kann damit nicht die Rede sein. Die Pille an sich ist keine feministische Errungenschaft. Sie ist höchstens ein kapitalistisch-patriarchales Projekt, das jungen Frauen die Wahl zwischen Pest und Cholera abnimmt und sich – samt Schminkspiegel – als feministisch verkauft.
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