„Wissenschaft ist kein abgeschlossenes System, sondern lebt vom Austausch und der Kommunikation mit der Gesellschaft“ – so steht es im Koalitionsvertrag, den die drei Parteien der Ampelkoalition unterzeichnet haben. Wenn der Satz stimmt, dass Wissenschaft von der Kommunikation mit der Gesellschaft lebt, dann ist sie tot, und umgebracht haben sie die Sozialphilosophen, die wie Jürgen Habermas unter dem Beifall querdenkender Wissenschaftsverächter verkündet haben, „die wissenschaftlich erforschte Natur fällt aus dem Bezugssystem von miteinander sprechenden und gemeinsam handelnden Menschen heraus“.
Leidvoll erfahren musste dies zuletzt der Virologe Christian Drosten, der seine Erfahrungen mit der Politik mit den Worten ausgedrückt hat, „es ist erschütternd, wie wenig politische Entscheider und die verschiedenen öffentlichen Verwaltungen immer noch von den Mechanismen der Wissenschaft verstehen“. Bei seinen Erfahrungen mit der Öffentlichkeit hatte Drosten den Eindruck gewonnen, dass viele Menschen – auch Vertreter der Medien – gar nicht wissen wollen, wie seine Arbeit aussieht und Forschung funktioniert.
Der Gastautor
Ernst Peter Fischer (Jahrgang 1947) ist gebürtiger Wuppertaler und studierte in Köln Mathematik und Physik sowie Biologie in Pasadena, Kalifornien, wo er 1977 promovierte. 1987 habilitierte er in Konstanz über Wissenschaftsgeschichte und lehrte unter anderem an der Universität in Heidelberg.
Von 1989 bis 1999 war er Herausgeber des „Mannheimer Forums“, eines Jahrbuchs in der Studienreihe Boehringer Mannheim.
Seit 2011 wohnt Fischer mit seiner Familie in Heidelberg. Ausgezeichnet wurde er unter anderem mit der Medaille der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und dem Sartorius-Preis der Akademie der Wissenschaften in Göttingen.
Fischer ist Autor zahlreicher Bücher, darunter „Die Verzauberung der Welt. Eine andere Geschichte der Naturwissenschaften“ (Siedler Verlag), „Das große Buch vom Menschen“ (Droemer Knaur Verlag) und „Die Welt in Deiner Hand“ (Springer Verlag).
Zuletzt im Hirzel Verlag erschienen: „Wider den Unverstand. Für eine bessere naturwissenschaftliche Bildung“.
Bild: Philipp Rothe/Archiv
Dass der Dialog zwischen Gesellschaft und Wissenschaft nicht gelingen will, ist schon länger beschrieben worden. 1968 konnte man in einem Essay des Historikers Jaques Barzun lesen: „Die westliche Gesellschaft beherbergt gegenwärtig die Wissenschaft wie einen fremden, mächtigen und geheimnisvollen Gott. Unser Leben wird von seinen Werken verändert; aber die Bevölkerung des Westens ist von einem Verständnis dieser seltsamen Macht wohl ebenso weit entfernt, wie ein Bauer in einem abgelegenen mittelalterlichen Dorf es von einem Verständnis der Theologie des Thomas von Aquin gewesen ist.“
Der Historiker ging dann sogar noch einen Schritt weiter, als er schrieb: „Die Lücke ist heute [1968] sichtlich größer, als sie vor hundert Jahren war, zu einer Zeit, als jeder gebildete Mensch sich die Hauptergebnisse und die einfachen Prinzipien, die damals Physik, Chemie und Biologie ausmachten, aneignen konnte. Die Schwierigkeit heute besteht nicht darin, dass die Wissenschaft mehr Tatsachen entdeckt hat, als sich in einem Kopf zusammenhalten lassen, sie besteht vielmehr darin, dass die Wissenschaft aufgehört hat, eine prinzipielle Einheit und ein Gegenstand der Kontemplation zu sein“, woran sich bis heute nichts geändert hat.
Die Beobachtung, dass die von der Wissenschaft gelieferten Kenntnisse selbst große Köpfe überfordern, findet sich bei Robert Musil in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Hier heißt es im frühen 20. Jahrhundert, dass Zeitungen Informationen „von einer unermesslichen Undurchdringlichkeit“ enthalten und von vielen Dingen künden, die selbst „das Denkvermögen eines Leibniz überschritten“.
Die Wissenschaft ist tatsächlich vor einhundert Jahren ungewöhnlich schwierig geworden, wie man durch Stichworte wie Relativitätstheorie und Quantenmechanik belegen kann, in denen die Zeit an den Raum gebunden wird und Atome Sprünge ausführen, ohne dass sich dafür Ursachen finden lassen. Und an der Aufgabe, die Wissenschaft zu einem Gegenstand der Kontemplation und dem Herzen zugänglich zu machen, muss eine Gesellschaft kläglich scheitern, die sich von ihren Sozialphilosophen einreden lässt, die Folge des rationalen Vorgehens der Physiker und anderer Forscher sei eine Entzauberung der Welt, mit der alles berechenbar und damit langweilig werde.
Diese These des Heidelberger Sozialwissenschaftlers Max Weber hat Carl Friedrich von Weizsäcker zurückgewiesen, als er meinte, Wissenschaft würde Geheimnisse nicht lüften und nur vertiefen, da sich nach jeder Antwort immer nur neue Fragen stellten. Albert Einstein fand dieses offene Spiel faszinierend, denn das Schönste, das Menschen erleben können, ist das Gefühl für das Geheimnisvolle, wie er einmal geschrieben hat, wobei diese Einsicht am Anfang eines meditativen Umgangs mit der Macht des Wissens stehen könnte, der jedem offensteht.
Im Fernsehen sollten nicht superkluge Moderatoren eine alberne „Show der Wunder“ vorführen, sondern eine spannende „Gala des Wunderns“ inszenieren, die Menschen direkt anspricht. Sie sollten wieder staunen lernen, zum Beispiel über das Wunder in ihrer Hand, mit dem die meisten gelangweilt herum daddeln, ohne sich für Wissenschaft und Technik eines Handys zu interessieren.
„Wer nicht mehr staunen kann, ist tot“, wie Einstein sich äußerte, nachdem er 1930 eine Funkausstellung eröffnet und das Publikum dabei mit den Worten beschimpft hatte: „Sollen sich alle schämen, die sich der Wunder von Wissenschaft und Technik bedienen und darüber so wenig wissen wie die Kuh von der Botanik der Pflanzen, die sie mit Wohlbehagen frisst.“
Haben Einsteins Ermahnungen Erfolg gehabt? Schämt sich irgendjemand, der auf sein Handy starrt ohne sich einmal zu fragen, wie das Zauberkästchen in der Hand seine Magie entfaltet, wie die Welt ihren Weg in das iPhone gefunden hat und wie Sprache und Musik wieder aus ihm herauskommen? Menschen kommunizieren miteinander dank der Wissenschaft und mit Hilfe der Technik. Aber wie sieht die Kommunikation der Wissenschaft mit der Gesellschaft aus? Findet sie überhaupt auf angemessenem Niveau statt?
In dem Zitat von Jaques Barzun ist von gebildeten Menschen die Re-de, die sich im 19. Jahrhundert noch aneignen konnten, was in den Wissenschaften passierte. Zu den großen Themen zählten damals die Energie in der Physik und die Idee der Evolution in der Biologie, und wer dies liest, kann nur feststellen, dass sich daran eigentlich nicht viel geändert hat. Es geht immer noch um die Wandlungen der Energie und Tragweite des evolutionären Gedankens, nur dass sich dabei vielfach sorgenvolle Aspekte melden. Sie äußern sich in Fragen der Art, wie die Energie- und Lebensmittelversorgung von Milliarden Menschen gelingen kann, ohne das Klima weiter aus dem Gleichgewicht zu bringen, und wie das Leben insgesamt reagiert, wenn steigende Temperaturen dem Heimatplaneten der Menschen massiv zusetzen und mehr unbewohnbare Regionen entstehen.
Hier kann es nur um die Frage gehen, wie Menschen dafür sorgen können, dass die einzige Waffe, die ihnen für den Kampf gegen Pandemien, Energiemangel, Umweltbelastungen, Armut und Hunger zur Verfügung steht, nämlich die Wissenschaft, den Rang bekommt, den sie verdient und benötigt, um die Macht auszuüben, die sie von Anfang an angestrebt hat. Als die moderne Wissenschaft vor etwa 400 Jahren erfunden wurde, lautete das kühne Schlagwort ihrer Vertreter, „Wissen ist Macht“, und inzwischen ist mit der Wissenschaft tatsächlich eine Macht entstanden, die neben dem klassischen Trio aus Exekutive, Legislative und Judikative als vierte Macht im Staate agiert, auch wenn die Medien sich selbst gerne an dieser Stelle sehen. Doch von der faktischen Macht der Wissenschaft kann man sich leicht durch einen Blick in den Wirtschaftsteil der Zeitungen überzeugen, in dem umfassend von nachhaltigen Anlagestrategien bei Energieangeboten, der Digitalisierung, der Produktion von E-Fahrzeugen, den seltenen Erden für Batterien, den mit der Gentechnik erfolgreichen Pharmaunternehmen und vielen anderen ökonomischen Realitäten die Rede ist, die allein der Wissenschaft zu verdanken sind, die seit Jahrhunderten das Berufsleben bestimmt und vielen Familien ihren Wohlstand beschert.
In seinem „Leben das Galilei“ hat Bertolt Brecht aus dem ursprünglichen Diktum „Wissen ist Macht“ einen viel schöneren Satz gemacht, den er seinem Helden in den Mund legt und der besagt: „Ich halte dafür, dass das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Bedingungen der menschlichen Existenz zu erleichtern.“ Das ist der hohe Sinn der Wissenschaft und das ist der Fortschritt, den sie ermöglicht.
Wenn sich nun eine Regierung 100 Jahre nach Brecht vornimmt, mehr Fortschritt zu wagen, dann stellt sie der Gesellschaft unter anderem die Aufgabe, über die Geschichte der Wissenschaft so viel zu wissen wie der genannte Dichter, der seinen Galilei studiert hat. Man sollte es ihm nachtun. Es gilt zu verstehen, dass Wissenschaft von Menschen gemacht wird. Wer sich bemüht, sie kennenzulernen, wird das Gespräch über die erforschte Natur fördern und genießen. Auch in einer Talkshow.
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