Treibt Brasilien weiter in die politische Isolation, Herr Nöthen?

Für die Präsidentschaftswahl im Oktober deutet alles auf ein Duell zwischen Amtsinhaber Bolsonaro und Ex-Präsident Lula hin. Andreas Nöthen über das Dilemma der Brasilianer und ein Land am Scheideweg. Ein Gastbeitrag.

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Andreas Nöthen
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In einem Geschäft liegen Pappmasken von Lula (links) und Bolsonaro. Im Wahljahr 2022 stehen sich der ehemalige Präsident, 2017 wegen Korruption verurteilt, und der ultrarechte aktuelle Amtsinhaber in einem polarisierten Land gegenüber. © Cris Faga/dpa

Momentan blickt alles in die Ukraine. Dabei geht ein wenig unter, dass am anderen Ende der Welt im Oktober eine wichtige Wahl ansteht: Brasilien, mit rund 210 Millionen Einwohnern zweitgrößte Demokratie Amerikas und geo- wie klimapolitisch wichtiger Player, wählt einen neuen Präsidenten. Nun, voraussichtlich wird der Neue ein Alter sein. Zwar haben bisher zwölf Kandidaten signalisiert antreten zu wollen, ernstzunehmende Chancen auf einen Sieg haben aber nur zwei: Der rechte Amtsinhaber Jair Bolsonaro und der ewige Widersacher und Ikone der Arbeiterpartei PT, Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva.

Für nicht wenige Brasilianer ist dieses Duell eine Wahl zwischen wenig gut und weiter schlecht. Mit Bolsonaro bliebe Brasilien weiter international isoliert und unberechenbar, was dringend benötigte ausländische Investments hemmt. Zudem bekäme Bolsonaro weitere vier Jahre Zeit, die demokratischen Institutionen sturmreif zu schießen. Einen ersten Anlauf nahm er mit dem Aufruf zur Demo am Nationalfeiertag 2021, dem Viele aber nicht genug folgten.

Mit der Begnadigung des rechten Abgeordneten Daniel Silveira hob er zuletzt eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs auf. Jener Institution, die Bolsonaro bislang erfolgreich die Stirn bietet und immer wieder ausbremst. Dieses hat er als seinen Hauptfeind ausgemacht. Dürfte Bolsonaro weitere vier Jahre regieren, hätte er das Recht weitere Richter für das höchste Gericht zu nominieren. So könnte er seinen Einfluss festigen und dessen Unabhängigkeit empfindlich schwächen.

Lula und seiner Partei PT, der dem Land während seiner ersten Amtszeit einen enormen Auftrieb verschaffte, haftet noch immer ein massiver Vertrauensverlust an, für den einige heftige Korruptionsaffären gesorgt hatten.

Viele sehnen sich daher nach einer Alternative, einem „dritten Weg“, einem Kandidaten, der weder den militanten Konservatismus Bolsonaros fortführt, noch einen Rückfall in alte Muster befürchten lässt. Doch wer könnte das sein?

Einer, der einst hohes Ansehen genoss, der Richter Sergio Moro aus Curitiba, hat sich bereits aus dem Rennen verabschiedet, nachdem sich seine Umfragewerte nicht über den einstelligen Bereich hinaus bewegen ließen. Wir erinnern uns: Moro war der Ermittlungsrichter, der im Korruptionsprozess Lava Jato von 2014 an die politischen Eliten erzittern ließ. Unerschrocken verknackte er die bis dahin weitgehend Unantastbaren aus Politik und Wirtschaft zu hohen Haftstrafen. Moro war extrem beliebt, schon damals riefen viele „Moro Presidente!“

Doch Moros Ruf litt. Als er Ex-Präsident Lula kurz vor der Wahl 2018 in einem Indizienprozess verurteilte und so aus dem Präsidentschaftsrennen nahm, machte er den Weg für Bolsonaro frei. Einen besonderen Geschmack bekam die ohnehin umstrittene Verurteilung dann, als Moro nach der Wahl Bolsonaros zu dessen Minister für Justiz und innere Sicherheit ernannt wurde. Dass er sich später mit Bolsonaro überwarf und zurücktrat, rehabilitierte seinen ramponierten Ruf nur teilweise.

Moro hätte durchaus das Zeug gehabt, im konservativen Becken Bolsonaros um Stimmen zu fischen und diesem Stimmen abzujagen. Allerdings kam er nie wirklich in die Herausfordererrolle und blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Im April begrub er seine Ambitionen ganz.

Ähnlich sieht es bei João Doria aus, einem weiteren Kandidaten des rechts-konservativen Milieus. Während der Corona-Pandemie, die Bolsonaros Brasilien nicht nur mehr als 650 000 Menschenleben kostete, sondern auch viel Rückhalt in der Bevölkerung, gelang es dem Gouverneur des wirtschaftsstärksten Bundesstaats São Paulo, dem Präsidenten sein Versagen wie einen Spiegel vorzuhalten. Doria propagierte Abstandsregeln und die Maßnahmen der WHO, er war der erste Gouverneur, der seine Bevölkerung flächendeckend impfen ließ.

Kurzzeitig sah es so aus, als könnte der Politiker, der 2018 im Fahrwasser mit Bolsonaro ins Amt kam, zu einem ernsthaften Konkurrenten heranwachsen. Jedoch ist seine Popularität über Sao Paulo hinaus begrenzt, seine Umfragewerte liegen im mittleren einstelligen Bereich.

Kommt es also trotz allem zum großen Showdown und einem Lagerwahlkampf zwischen rechts (Bolsonaro) und links (Lula)? Die Anhänger Bolsonaros werden es versuchen. Momentan führt Lula in den Umfragen. Zusätzliche Stimmen für Bolsonaro lassen sich nur auftreiben, wenn der Wahlkampf möglichst polarisiert inszeniert wird. Aber worum geht es wirklich?

Es ist zweifellos eine Richtungswahl. Vier weitere Jahre Bolsonaro würden eine weitere außenpolitische Isolation Brasiliens bedeuten – nach der Abwahl Trumps sowieso. Wie das aussehen könnte, zeigte sich Anfang des Jahres, als Bolsonaro zur großen Europareise aufbrechen wollte und nur von Putin und Órban empfangen wurde. Das sah bei Lula im Herbst schon ganz anders aus. Noch nicht einmal offiziell Kandidat, reiste er nach Europa, wurde in Brüssel, Paris oder Lissabon wie ein Staatsgast empfangen. Ginge es darum, welchen Präsidenten Europa für Brasilien gerne sähe, die Wahl wäre eindeutig.

Entscheidender als das außenpolitische Renommee dürfte für die Brasilianer aber sein, wer Lösungen für die großen innenpolitischen und gesellschaftlichen Probleme liefern kann: Die Inflation – eine Urangst der Brasilianer – steigt wieder, die Arbeitslosigkeit ist hoch wie lange nicht, die Armut und der Hunger sind zurück in dem Land, das wesentliche Einnahmen mit dem Export von Lebensmitteln erzielt.

Hinzu kommen die Dauerbrennerthemen Korruption und Gewalt. Beides hatte Bolsonaro versprochen zu bekämpfen. Doch es war weitgehend bei Worten geblieben. Denn auch in der Regierung des Rechtsaußen gab es Korruptionsaffären, in die auch seine Söhne verstrickt sein sollen.

Für viele Brasilianer bedeutet das ein Dilemma. Schließlich hatten sie sich ja gerade wegen der Korruption und die Affären von Lulas PT 2018 für Bolsonaro entschieden. Es war auch eine Denkzettelwahl der Enttäuschten.

Auch das Corona-Management Bolsonaros stieß vielen Brasilianern übel auf. Der Hauptmann der Reserve verharmloste die Pandemie zunächst, was mehr als 660 000 Brasilianern das Leben kostete. Viele Brasilianer verloren Eltern, Geschwister, Kinder. Beim erst sehr späten Kauf von Impfstoff kam es offenbar zu Bestechung.

Große Sorge bereitet den Menschen jedoch die Rückkehr von Armut und Hunger. Während der Präsidentschaft Lulas (2003-2010) war es gelungen, Brasilien von der Liste der Hungerstaaten zu tilgen. Viele arme Menschen schafften den Sprung aus der Armut. Dieser Fortschritt wurde mit großen Umverteilungsprogrammen wie der Bolsa Familia erkauft.

Bolsonaros Corona-Notprogramm erwies sich als teuer und nicht nachhaltig. Aktuell halten sich viele Menschen mit den sogenannten Cestas basicas über Wasser. Das sind Lebensmittelpakete, die von Privatpersonen, Kirchen oder NGOs an die Bedürftigsten gespendet werden, also nicht auf staatliche, sondern private Initiative zurückgehen.

Es könnte ein großer Pluspunkt für Lula sein, dass er sich bereits als Krisenmanager und Anwalt der Armen hat etablieren können. Es hat gezeigt, dass er es verstand, Politik für die Ärmsten zu machen, nach wie vor die größte Bevölkerungs- und Wählergruppe. Klar, das geschah durch Umverteilung zu einer Zeit, als es Brasilien wirtschaftlich gut ging. Lulas Vorgänger Fernando Henrique Cardos hatte die Inflation bezwungen und viele Programme angeleiert, deren Früchte Lula nur zu ernten brauchte. Unterstützt wurde er zudem durch hohe Rohstoffpreise, die der Regierung entsprechende finanzielle Spielräume verschafften.

Die Boomjahre überdeckten auch einige Versäumnisse bei der Behebung anderer struktureller Defizite. So hätte Lula während seiner Amtszeit sicherlich mehr für den Bildungssektor tun können. Anfang 2022 sahen die Wirtschaftsaussichten für Brasilien noch relativ bescheiden aus. Das Land konnte sich noch immer nicht von der nun schon acht Jahre andauernden Wirtschaftskrise erholen. Lula müsste im Falle eines Wahlsiegs also mit ziemlich leeren Kassen und einer ausgemergelten Wirtschaft in seine dritte Amtszeit starten.

Der russische Einmarsch in der Ukraine bietet für Brasilien nun aber eine neue Perspektive. Länder wie Deutschland suchen nach neuen, politisch sicheren Rohstoffquellen. Brasilien könnte in genau dieses Anforderungsprofil passen. Die Ölreserven sind groß, bei einem entsprechend hohen Rohstoffpreis lohnt auch die aufwendigere Förderung des Tiefseeöls vor der Küste. Im Nordosten bieten sich zudem hervorragende Möglichkeiten für den Ausbau von Windenergie.

Das böte nicht nur europäischen Staaten ein festes Standbein im Versorgungsmix, sondern böte dem größten Land Südamerikas sogar noch die Aussicht auf eine Wertschöpfung abseits der zuletzt so rücksichtslos vorangetriebenen Exploration des ökologisch so bedeutsamen Amazonasraums. Lula könnte somit das Kunststück gelingen, ein zweites Mal von einem Rohstoffboom zu profitieren.

Der Gastautor

Andreas Nöthen ist Journalist aus Frankfurt und hat viele Jahre in Brasilien gelebt, wo er als selbstständige Korrespondent gearbeitet hat.

Er ist auch Autor von Sachbüchern über Brasilien. 2020 erschien „Bulldozer Bolsonaro – Wie ein Populist Brasilien ruiniert“. Im März diesen Jahres veröffentlichte er „Luiz Inácio Lula da Silva – eine politische Biografie“ beim Wiener Mandelbaum Verlag.

Bild: Martina Seitz

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