Debatte

Muss Arbeit Sinn machen, Herr Hamm?

Wer einen Job mit Sinn sucht, hat etwas falsch verstanden: Nicht eine bestimmte Arbeitsstelle verspricht Sinnhaftigkeit, sondern das eigene individuelle Handeln verleiht einer Arbeit Sinn – wenn es denn zu unseren Fähigkeiten passt, meint Ingo Hamm. Ein Gastbeitrag.

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Ingo Hamm
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Durchhalten bis zum Wochenende? So stellen wir uns erfüllende Arbeit eher nicht vor. © Istock

Welchen Sinn hat Ihre Arbeit? Klar: Sie verdienen damit Geld. Reicht Ihnen das? Millionen Deutsche meinen: Nein. Inzwischen registrieren das auch viele Unternehmen. Sie haben die Sinnkrise der Arbeit (und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer) erkannt und eine Lösung gefunden: den Purpose. Viele Konzerne leisten sich einen noblen Purpose. Zum Beispiel: „We move you“ (Daimler Financial Services), „We reimagine fashion for the good of all“ (Zalando) oder „To inspire and nurture the human spirit“ (Starbucks).

Warum muss ein höherer Sinn her? Weil Topmanager erkannt haben: Viele Menschen suchen eine Erklärung, einen Sinn für etwas, das sie nicht mehr ganz verstehen und das sie nicht mehr wirklich mit Überzeugung und/oder gerne machen: ihre Arbeit. In unserer modernen Zeit sind viele Berufe inzwischen so komplex, spezialisiert und Lichtjahre vom Endkunden entfernt, dass viele von ihrer Arbeit entfremdet sind und nicht mehr wissen, warum und wozu sie das alles machen (müssen). Genau diese Sinnlücke soll der Purpose füllen. Doch es gibt noch einen anderen Grund.

Im Kampf um knappe Talente in Zeiten des Fachkräftemangels lassen sich Manager nicht zweimal bitten, wenn ein vielversprechender New Work-Köder auftaucht, mit dem sie neue Mitarbeiter ins Unternehmen locken können. Früher angelte man neue Mitarbeiter mit einem Tischkicker, einem Jahresbonus und einer ordentlichen Kantine, heute mit einem quasi-religiösen Heilsversprechen in Gestalt eines Purpose. Funktioniert das? In einem Wort: nein. Zwei für nicht-theologische Sinnfragen zuständigen Wissenschaften, Philosophie und Psychologie, konnten in teils Jahrhunderten der Forschung nie einen Sinn finden, der wirken würde – wenn er, wie der Purpose, von außen vorgegeben wird. Der Haken ist nämlich: Sinn lässt sich nicht verordnen.

Es gibt keinen Sinn, der einem Menschen von außen vorgegeben werden könnte. Der populärste Merksatz dazu stammt von Viktor Frankl, dem Begründer der Logotherapie: „Sinn kann nicht gegeben werden, sondern muss gefunden werden.“ Von jedem Menschen selbst. Das kann, sollte und darf ihm keine Firma ab- oder wegnehmen.

Frankl selbst ist das beste, wenn auch extremste Beispiel dafür. Er fand Sinn sogar im Vernichtungslager der Nazis: Er wollte überleben, um danach davon zu erzählen und darüber zu lehren. Diesen Sinn fand er für sich, und dieser Sinn verlieh ihm unglaubliche Kraft. Er überlebte das Grauen. Wir dagegen kämpfen nicht täglich ums Überleben. Können wir trotzdem Sinn im Leben finden?

Die Wissenschaft hat schon lange herausgefunden, welche Arbeit Sinn macht. Äußerst nützlich für die Sinnfindung ist zum Beispiel das „Job Characteristics Model“ von Hackman und Oldham. Danach macht wirklich jede Arbeit Sinn, sofern sie als Ganzes oder in wesentlichen Teilen fünf Voraussetzungen erfüllt: Sie ist vielfältig und bedeutsam, kann von vorne bis hinten und relativ autonom ausgeführt werden, und sie bietet Feedback. Jeder dieser fünf Faktoren steigert den Sinn – jedenfalls mehr als jeder Purpose. An dieser Stelle bemerkte einmal eine Managerin: „Nach dieser Definition kann ich aber auch einen Job in der Waffenproduktion als sinnvoll empfinden!“ Da hat sie recht. Einiges, was wir tun, kann durchaus Sinn machen – zum Beispiel Stehlen oder Lügen –, ist jedoch unmoralisch. Ein sinnvolles Leben ist schön, doch erst ein sinnvolles und moralisches Leben macht einen glücklichen und guten Menschen aus uns. Und das ist nicht das einzige Missverständnis, das uns den Weg zu einem sinnvollen Leben verstellt.

Auch diesen Kalenderspruch, er stammt von Antoine de Saint-Exupéry, kennen viele: „Wenn du ein Schiff bauen willst, beginne nicht damit, Holz zu sammeln, Bretter zu schneiden und Arbeit zu verteilen, sondern wecke in den Menschen die Sehnsucht nach dem großen, weiten Meer.“ Viele missverstehen das und glauben: Sehnsucht führt zum Sinn. Sie denken: Wir müssen nur unsere Sehnsucht wecken, dann wird uns diese zum Ziel tragen und zum Sinn führen. Jeder, der schon einmal an einer Diät gescheitert ist, hat das Gegenteil erfahren: Man kann noch so intensiv das perfekte Gewicht ersehnen – irgendwann erlischt selbst die stärkste Sehnsucht, und wir stehen mit leeren Händen da.

Der Polarforscher Ernest Shackleton dagegen suchte per Annonce für seine legendäre Südpol-Expedition „Männer für gefährliche Reise. Geringer Lohn, bittere Kälte, monatelange völlige Dunkelheit, ständige Gefahr. Sichere Heimkehr zweifelhaft. Ehre und Ruhm im Erfolgsfall.“ Warum suchte er keine „Männer mit Sehnsucht nach der weiten, endlosen Antarktis“? Weil Shackleton wusste: Wenn diese sehnsüchtigen Männer dann mit „bitterer Kälte, völliger Dunkelheit und ständiger Gefahr“ konfrontiert werden, also mit den üblichen Härten des realen Lebens, erlischt handelsübliche Sehnsucht schneller als ein Teelicht in einem Tornado.

Das ist der Unterschied zwischen Sehnsucht und Sinn, zwischen Motivation und Kompetenz. Shackletons Männer hatten die nötige Kompetenz, um Gefahr und Dunkelheit zu meistern. Und exakt in diesem Meistern von Aufgaben liegt der Sinn des Arbeitslebens. Kurz und gut: Kompetenz macht Sinn! Kompetenz ist konkret, Sehnsucht ist es nicht. Eine sinnstiftende Arbeit ergibt sich nicht aus Sehnsüchten, sondern im täglichen Tun, beim Machen. Wie Kästner sagte: „Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es.“ Das wussten schon die alten Griechen.

In der griechischen Sage wird Sisyphos von den missgünstigen Göttern dazu verdammt, auf ewig einen Felsbrock einen Berg hinauf zu wälzen – und kaum ist er oben angelangt, rollt der Fels auf der andern Seite wieder runter. Was für eine schlimme Strafe! Die Philosophen des Existenzialismus sind anderer Meinung. Albert Camus zum Beispiel sagte: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Warum? Weil er etwas tut, etwas bewegt, ohne lange darüber nachzudenken, worin denn nun der Sinn so eines Lebens bestehen könnte. Machen macht mehr Sinn als Philosophieren. Sisyphos verleiht seinem Leben Sinn mit seinem Fokus auf den Fels und seiner Kompetenz, ihn zu bewegen.

Man schafft Sinn, indem man sich auf die eigene Kompetenz verlässt und nicht aufs Grübeln – oder einen Purpose. Wenn Sinn also (nur) in der eigenen Kompetenz zu finden ist – was ist Ihre?

Dazu sollten wir Kompetenz als individuelle Menge von „Basic Interests“ verstehen: Was alles tun Sie gut und gerne? Seit jeher? Mit Zahlen jonglieren oder eher mit Worten? Die Details einer Aufgabe oder eher das große Bild? Eher Konzepte oder lieber Praxis? Künstler oder Kommunikator? Verkäufer oder Handwerker? Lieber mit dem Kopf oder eher mit den Händen?

Wir alle haben etliche Kompetenzen und Vorlieben. Je mehr wir davon in jedwedem Job, bei jedweder Aufgabe ausleben können, desto sinnvoller empfinden wir unsere Arbeit und unser Leben. Das ist das Was einer Arbeit, doch auch das Wie spielt eine Rolle: Wie wollen wir arbeiten? In welchem Arbeitsklima? Sollte die Arbeit zentral oder dezentral organisiert sein? Wie stark das Leistungs- und Führungsethos? Wie das Teamverhalten? Wie hektisch der Job? Oder eher die ruhige Kugel? Je besser dieses Wie zu unseren Vorlieben passt, desto mehr Sinn macht ein Arbeitsplatz.

Immer mehr Menschen streben nicht nach „mehr Karriere“ oder „mehr Geld“, sondern nach „mehr Sinn“. Je eher wir uns rückbesinnen auf unsere Kompetenzen und Vorlieben, umso sinnvoller werden Job und Leben. Sie sind der Schlüssel zu einem sinnerfüllten Leben: Was habe ich schon immer gerne gemacht? Was kann ich gut? Wo kann ich das umsetzen und einbringen?

Dafür müssen wir nicht warten, bis der Chef oder ein Purpose uns das verrät. Das können wir nur selbst herausfinden, weil nur wir selbst es wissen. Wie das Sprichwort schon sagt: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied.

Der Gastautor

Ingo Hamm war jahrelang McKinsey-Berater, arbeitete danach in einem internationalen Konzern und folgte schließlich seinem forscherischen Freiheitsdrang: Heute ist er Professor für Wirtschaftspsychologie.

Er hat zahlreiche Bücher publiziert und unterstützt als Berater den stetigen Wandel in Organisationen.

Sein Buch „Sinnlos glücklich. Wie man auch ohne Purpose Erfüllung bei der Arbeit findet“ ist bei Vahlen erschienen.

Bild: Julian Beekmann Fotografie

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