Debatte

Welche Macht hat Sprache über uns, Herr Albrecht?

Von 
Thomas W. Albrecht
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Wie wir reden, wirkt sich auf unser Umfeld aus – und auf uns selbst. Wir entscheiden, ob wir uns und andere motivieren, ärgern oder abwerten. © Istock/Picture People

Der Donnerstag vor dem Aschermittwoch ist traditionell der Tag des Wiener Opernballs, zumindest in normalen Jahren. Ein gesellschaftliches Ereignis, das weltweit seinesgleichen sucht, auch wenn es immer wieder von Demonstrationen begleitet war. Aus heutiger Sicht könnte man sagen, von vielleicht lautstarken, jedoch harmlosen Protesten. Dieses Bild hat sich schlagartig gewandelt. Die ganze Welt ist auf die Kampfrhetorik des russischen Präsidenten Putin hereingefallen. Am Donnerstag vor dem Aschermittwoch wurde die Ukraine überfallen. Es war der 24. Februar 2022. Wir dachten, die Covid-Pandemie sei die kollektive Krise. Doch die aktuelle kriegerische Auseinandersetzung, die damit einhergehende Propaganda und das unfassbare Leid machen uns sprachlos. Es fehlen uns die Worte.

Während unseres Lebens sammeln wir Menschen laufend Erfahrungen. Wir sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen unentwegt, auch wenn uns dies nicht immer bewusst ist. Unsere Sinnesorgane laufen auf Hochtouren. Wir speichern diese Erfahrungen als „Erinnerungen“ ab. Sie beschreiben niemals die vollständige Wahrheit, sondern bestenfalls nur einen Auszug davon. Es ist so, als würden wir diese Erinnerungen in einer Art Museum aufbewahren. So wie emotional aufgeladene Bilder, die in einem langen dunklen Gang an den Wänden hängen. Dieses Museum unserer Erinnerungen scheint schier unendlich groß zu sein. Wir können unser Bewusstsein als Taschenlampe nutzen, und bewusst zu Erinnerungen „hingehen“ und sie ausleuchten. Ist es eine positive Erinnerung, eine nette Geschichte aus unserem Leben, dann machen sich positive Gefühle breit, wir sind entspannt und fühlen uns gut. Sind es negative Erinnerungen, dann sind es auch negative Emotionen, die wir ebenso körperlich wahrnehmen.

Der Gastautor

  • Thomas Wilhelm Albrecht ist international renommierter Speaker, Coach und Mentor.
  • Nach dem Diplomstudium für Elektrotechnik und mehr als zehnjähriger Erfahrung als Führungskraft eines Großkonzerns sowie in Start-ups wandte er sich als selbstständiger Unternehmer den Themen Kultur- und Wertewandel in Unternehmen und Gesellschaft zu.
  • In seinem Buch „Die besondere Kraft der achtsamen Sprache. Wie wir reden, bestimmt unser Leben“, zeigt er, dass achtsame Sprache der Schlüssel für gegenseitiges Verständnis und für ein konstruktives Miteinander ist, selbst in Zeiten von massiver Unsicherheit.
  • Ebenfalls im Goldegg Verlag ist „Kampfrhetorik. So werden wir gegen unseren Willen beeinflusst - und was wir dagegen tun können“ erschienen.

Unsere Sprache ermöglicht uns eine besondere Fähigkeit: Wir können unsere Erinnerungen beschreiben. Wir können uns Gedanken darüber machen, und wir können sie mit anderen teilen. Jedoch gelingt dies niemals vollständig, sondern immer nur bruchstückhaft. Das ist einleuchtend: Würde ich meine Erlebnisse des vergangenen Wochenendes vollständig beschreiben wollen, bräuchte ich die Zeit eines ganzen Wochenendes, um alles in voller Tiefe wiederzugeben. Dass dies nicht möglich ist, leuchtet ein. Wir kürzen daher ab. Unsere Beschreibungen sind bruchstückhaft. Vieles wird einfach weggelassen, anderes verallgemeinert und manches wird vorausgesetzt - wir nehmen an, dass der Zuhörer es bereits wissen müsste (was natürlich fast nie der Fall ist). Alle diese „Abkürzungen“ finden vollkommen unbewusst statt.

Erzählt nun jemand von seinen Erlebnissen und Erinnerungen, oder teilt jemand seine Gedanken zu einem Thema, so ist dies immer nur oberflächlich. Es kann gar nicht anders sein. Der Zuhörer nimmt die Schallwellen des Sprechers wahr, dekodiert diese und projiziert sie auf sein Museum seiner eigenen persönlichen Erinnerungen. Er will verstehen, und verstehen heißt, neue Erfahrungen in Bekanntes einzuordnen. Das Museum des Sprechers und das des Zuhörers unterscheiden sie jedoch, teilweise sogar gewaltig. Denn beide haben zeit ihres Lebens unterschiedliche Erfahrungen gemacht, hatten unterschiedliche Eltern und andere wichtige Bezugspersonen, kommen vielleicht aus unterschiedlichen Landesteilen oder gar aus unterschiedlichen Kulturen. Die Quelle für Missverständnisse ist nachvollziehbar groß. Etwas, das für den Einen vollkommen in Ordnung ist, klingt für den Anderen beleidigend. Dort, wo der Eine ein großes Problem sieht, hat der Andere schon eine Lösung.

Zusammenfassend kann man sagen: Wir projizieren alle unsere Sinneswahrnehmungen, somit auch Sprache, auf unsere eigenen Erfahrungen und bewerten diese Sinneserfahrungen aufgrund unserer Erfahrungen positiv oder negativ. Ist man mit dem Gesagten nicht einverstanden, so sind inhaltliche Konflikte vorprogrammiert.

Hier kommt achtsame Sprache ins Spiel. Achtsame Sprache interessiert sich sowohl für das Museum des Sprechers als auch für jenes des Zuhörers. Achtsame Sprache hinterfragt das Gehörte, ohne es gleich zu bewerten. Sagt zum Beispiel jemand: „Niemand achtet darauf, was ich sage“, dann lautet die klassische, unachtsame Reaktion vielleicht: „Das stimmt nicht, was Du immer glaubst! Ich höre Dir immer zu“. Eine achtsame Reaktion hingegen wäre: „Woran bemerkst Du das? Was genau sagst Du, wo niemand darauf achtet?“. Achtsame Fragen wollen ergründen, wie die Einschätzung „Niemand achtet darauf, was ich sage“ zustande kommt, ohne den Inhalt zu bewerten.

In unserer Kultur, in unserer naturwissenschaftlichen Welt werden wir dazu erzogen, ausschließlich den Inhalt einer Aussage zu bewerten. Genau in dieser Bewertung liegt das große Problem, da wir Aussagen aller Art auf unser Museum unserer Erfahrungen projizieren. Unsere Erfahrungen sind zu einem großen Teil kultureller Art. Unsere Kultur lehrt uns noch immer, wir seien Opfer der Umstände. Sie lehrt uns, auf Zahlen, Daten und Fakten zu schauen. Alle Handlungen, das haben wir während der Covid-Krise immer wieder erlebt, müssen evidenzbasiert sein, obwohl dies nicht möglich ist.

Glauben wir weiterhin, Opfer der Umstände zu sein, dann macht Sprache mit uns, was sie will. Der Manipulation und der Propaganda sind Tür und Tor geöffnet. Manipulative Aussagen sind bewusst so gestaltet, dass sie beim Zuhörer Zustimmung finden. Sie sind bewusst so formuliert, dass Einverständnis gegeben ist. Propaganda hat die Absicht, Lügen so darzustellen, dass sie wie die Wahrheit klingen.

Wann halten Sie etwas für wahr oder für falsch? Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Aus Sicht der (Kampf-)Rhetorik jedoch entscheidend. Es soll am Ende einer Rede erreicht werden, dass die Zuhörerschaft der Empfehlung des Sprechers folgt. Das heißt, die Zuhörerschaft muss am Ende das Gefühl haben, dass die vorgebrachte Sache Sinn macht. Es geht also um das Gefühl, ob das Gehörte in subjektiv Bekanntes eingeordnet werden kann. Gelingt dies, halten wir die Aussagen für wahr, ansonsten für falsch. Es ist also nicht allein der Inhalt, der über wahr oder falsch entscheidet, sondern ebenso die Art und Weise, wie etwas gesagt wird, wie es formuliert wird. Dieses Phänomen macht sich Propaganda absichtlich zunutze. Es tritt jedoch nicht nur bei Propaganda auf, sondern genauso in unserer alltäglichen Kommunikation, und zwar vollkommen unbewusst.

Wie kann nun die Lösung aussehen? Es sind vier wesentliche Elemente, die uns vom Opfer zum Gestalter machen.

Erstens: Halten wir inne. Egal, was wir hören oder sonst über unsere Sinnesorgane wahrnehmen. Bleiben wir bei der Wahrnehmung, indem wir sagen: Ich höre. Alles, was ich höre, kommt von der anderen Person und hat ausschließlich mit ihrem Museum der Erfahrungen zu tun, und nichts mit mir.

Zweitens: Sei neugierig und frage nach: „Wie kommst Du darauf? Wie weißt Du das? Wann hast Du das entschieden?“ - mit diesen und ähnlichen Fragen können Sie das Museum Ihres Gegenübers ergründen. Sie erfahren, wie die andere Person auf das, was sie sagt, kommt.

Drittens: Ergründen Sie Ihr eigenes Museum an Erfahrungen. Woher haben Sie Ihre eigenen Überzeugungen und Annahmen über diese Welt? Wie kommen Sie darauf? Wie wissen Sie das? Wann haben Sie es so entschieden?

Viertens: Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Dinge im Leben, die gut laufen. Schauen Sie auf das, was Sie wirklich wollen. Die meisten Menschen wissen, was sie nicht wollen, jedoch nicht, was sie wollen. Schreiben Sie sich eine Liste von Dingen, die in Ihrem Leben wichtig sind, ohne die Wörter „nicht“ oder „kein“ zu verwenden.

Sprache macht also nur das mit uns, was wir zulassen, was sie mit uns macht. Wenn wir zulassen, Opfer der Umstände zu sein (weil wir glauben, dass es so sei), dann sind wir allem und jedem ausgeliefert. Natürlich, wir können Umstände oft nicht ändern. Wir können nicht ändern, dass Putin die Ukraine überfallen hat. Wir können nicht ändern, dass uns die Covid-Pandemie umgibt. Doch wir können unsere Reaktion und unsere Handlungen verändern. Wir können beginnen, zu verstehen. Wir können beginnen, uns als Gestalter zu sehen. Wir können unseren Fokus auf das Positive ausrichten, und das Gute in unserem Leben wird sich vermehren.

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