Wut hat ein schlechtes Image. Sie wird häufig als ein Synonym für Zerstörung und Destruktivität verwendet. Dabei ist Wut ein Alarmsignal. Ein innerer Kompass, der uns warnt, schützt und auf Ungerechtigkeiten aufmerksam macht. Eine essenzielle Emotion, die politischen und sozialen Wandel hervorrufen kann. Doch bereits als kleines Kind lernte ich, dass Wut nicht gleich Wut ist. Sie wird unterschieden. Zwar empfinden wir alle diese Emotion, doch je nachdem, wie ich aussehe, wird sie anders bewertet. Die Wut von Frauen wird ganz anders beurteilt als die von Männern. Dabei prägten mich die Erfahrungen meiner Mutter.
Als ich 13 Jahre alt war, war meine Mutter wütend. Ihre Wangen leuchteten in einem sanften Karminrot, ihre Stimme wurde energischer, drängender, erbarmungsloser. Meine Mutter stand mit meiner kleinen Schwester und mir in einem Supermarkt. Als alleinerziehende Mutter war das Geld immer zu knapp. Daher überprüfte sie alle Rechnungen und versuchte hier und da etwas zu sparen. An diesem Tag entdeckte meine Mutter eine Differenz auf der Rechnung. Ihr wurde zu viel Geld abgezogen. Mit dem Einkauf, meiner Schwester und mir fragte sie nach. Dabei wurde sie von der Kassierin ignoriert mit dem Satz, sie solle warten. Wir warteten.
Wer in unserer Gesellschaft wütend sein darf, hat Macht; wer sie nicht ausdrücken darf, wird kontrolliert.
Wir warteten zwanzig Minuten. Von Minute zu Minute braute sich die Wutwolke in meiner Mutter mehr auf. Zwischendurch fragte meine Mutter, ob sie es denn schnell klären können, doch die Kassiererin zeigte auf den vollen Laden. Als der nächste Kunde seine Lebensmittel auf das summende Band legte, stellte meine Mutter sich davor und sagte: „Ich möchte mit Ihren Chef sprechen!“ Ihre Worte wurden knapp. Sie stieß sie förmlich hinaus. Die Kassiererin rief an und nach einiger Zeit war er auch da. Es war zu viel. Das Warten. Die Kinder. Ihre Wut bahnte sich durch den gesamten Laden und das Gesicht ihres Gegenübers wurde hart, kalt und distanziert. Sie hörten ihr nicht mehr zu. Sie schrie. Die Menschen in dem Geschäft taten sie als irrational, anstrengend und kompliziert ab. Verfielen in eine Abwehrhaltung. Zwar hatte sie recht, doch sie war die laute, hysterische Frau, die sich wegen ein wenig Geld ärgerte. Das war nur eine von vielen Momenten, in denen ich lernte: Frauen dürfen nicht wütend sein.
Wenn sie es doch sind, dann sind sie selbst daran schuld. Sie haben zu wenig geschlafen oder gegessen, hatten zu wenig Sex, sind gestresst - sie sollen sich mal zusammenreißen!
Männliche Wut hat einen Grund. Einen, den wir breit analysieren. Diese Mechanismen sorgen dafür, dass wir die Wut von Frauen nicht ernstnehmen. Mit Frauen und Männern, da geht es nicht um die eine Frau oder den einen Mann, sondern vielmehr um das soziale Konstrukt dahinter. Die heteronormativen Vorstellungen von ihnen. Es geht darum, dass es ein gesellschaftliches Bild von Frauen gibt - mit der Botschaft, dass sie sanft und fürsorglich sein sollen. Wenn sie sich nicht an dieses Protokoll halten, werden sie schnell als irrational und hysterisch bezeichnet. Bei diesem Prozess nehmen wir ihnen die Souveränität, Protest in eigener Sache äußern zu können.
Das hat natürlich einen Grund. Wer in unserer Gesellschaft wütend sein darf, ohne soziale Folgen, hat Macht; wer sie nicht ausdrücken darf, wird kontrolliert. Wut und Macht sind integral miteinander verknüpft, aber auch, wie viel eine Gruppe für unsere Gemeinschaft Wert ist. Wenn uns eine Person wertvoll erscheint, finden wir es richtig, dass sie wütend ist, wenn sie beispielsweise verletzt wird. Ob verbal oder physisch. Wir nehmen ihre Wut ernst. Vielleicht regen wir uns sogar mit auf. Wir empfinden Wut-Empathie.
Die Gastautorin
- Schreiben: Genau das war Ciani-Sophia Hoeders Ziel. Vielleicht ist es ein natürlicher Prozess, als junge Frau all die großen und kleinen Gedanken zu Papier zu bringen? Heute nennt man es Journaling, damals Tagebuch schreiben, für Ciani-Sophia Hoeder war es: den Sinn und Unsinn des Lebens zu begreifen. Deshalb hat sie das Schreiben zur Berufung gemacht.
- Heute ist Ciani-Sophia Hoeder freie Journalistin, „SZ“-Magazin-Kolumnistin, Gründerin des ersten Online-Lifestylemagazins für Schwarze FLINTA im deutschsprachigen Raum namens RosaMag, Solopreneurin, was eher einer Jongleurin gleicht, Grimme-Online-Nominierte und Gewinnerin des Goldenen Bloggers. Sie wurde vom „Medium-Magazin“ zu den 30 unter 30 gewählt, schreibt, Video editiert und berichtet nicht nur über den alltäglichen und den institutionellen Rassismus, sondern auch über Gesellschaftsthemen sowie politische Debakel, intersektionalen Feminismus und die Widrigkeiten der Popkultur.
- Im Herbst 2021 erschien bei hanser blau ihr Debütbuch „Wut & Böse”.
Empathisch zu handeln, bedeutet sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Wut-Empathie geht einen Schritt weiter. Es ist das sich Mit-ärgern. Hierbei geht es nicht nur um das „oh, wie schade“, sondern das „wie kann ich anpacken?“ Da Wut und Macht integral miteinander verbunden sind, brauchen wir Unbetroffene, die sich für Betroffene stark machen. Denn wenn die Wut von der einen Hälfte eher ernst genommen wird, als von der anderen, kann die eine mehr mit ihrer Wut bezwecken als die andere. Es ist ein Privileg wütend sein zu können, ohne Angst zu haben, den Job oder die Aufenthaltsgenehmigung zu verlieren. In der Theorie sind ein Großteil der Bevölkerung für die Gleichstellung von Mann und Frau. In der Praxis sieht es ganz anders aus.
Wer nicht wütend ist, findet die Welt, wie sie ist, in Ordnung. Es ist die Akzeptanz von Ungerechtigkeit.
Frauen berichten häufiger von Erschöpfung als Männer. Sie erleben weniger Orgasmen, zumindest wenn sie Sex mit Männern haben. Sie verdienen weniger Geld als ihre männlichen Kollegen. Häufig ist das strukturbedingt. Drei Viertel des Verdienstunterschieds zwischen Männern und Frauen liegen daran, dass Frauen häufiger in Branchen und Berufen arbeiten, in denen schlechter bezahlt wird, und sie seltener Führungspositionen erreichen. Weibliche Patientinnen werden seltener wegen Schmerzen behandelt als männliche Patienten, die mit den gleichen Symptomen auftreten. Frauen sterben noch immer häufiger als Männer an einem Herzinfarkt . Die Sterblichkeit hängt noch dazu davon ab, wer sie behandelt. Werden Frauen - das zeigt eine kürzlich erschienene Studie - von einer Ärztin behandelt, überleben sie deutlich häufiger. Jede dritte Frau in Deutschland ist mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner. Betroffen sind Frauen aller sozialen Schichten. Mit dieser gigantischen Palette von Gründen, stellt sich die Frage, warum wir nicht alle außer uns sind?
Die bittere Wahrheit ist: Wenn du nie wütend bist, akzeptierst du den Status-Quo. Es legitimiert, dass tief verwurzelte Vorurteile über Rasse, Geschlecht, Sexualität, Armut und so vieles mehr überdauern. All die oben aufgeführten Probleme verschwinden nicht durch ein freundliches und ausgeglichenes Lächeln. Wer nicht wütend ist, findet die Welt, wie sie ist, in Ordnung. Es ist die Akzeptanz von Ungerechtigkeit. Die Folge unterdrückter Wut ist Stillstand.
Mädchen sollten wir den Raum geben, ihre Wut auszuleben – statt sie zu belohnen, sobald sie diese herunterschlucken.
Die Lösung ist nun nicht, dass alle Frauen - alleine - ihrer Wut freien laufen lassen, wie Mini-Hulks durch die Gegend stampfen und dann ist alles gegessen. Ganz im Gegenteil: Wer öffentlich ausrastet, gilt als charakterschwach. Die eigene Erkenntnis reicht nicht aus. Wütende Frauen werden sowohl von Männern als auch e von anderen Frauen nicht ernst genommen. Es geht somit nicht nur darum, überhaupt zu begreifen, dass es eine systematische Trennung zwischen Wut und Weiblichkeit gibt. Wir brauchen einen gesamtgesellschaftlichen Wandel.
Schon von Kindesbeinen an sollten wir Mädchen überhaupt den Raum geben, ihre Wut auszuleben und sie zu verstehen - statt sie zu belohnen, sobald sie diese herunterschlucken. Gleichzeitig müssen wir auch Jungs zeigen, dass auch sie die Wut von Mädchen anerkennen. Wir alle empfinden Wut, nur lernen wir im Laufe unserer Sozialisierung differenziert damit umzugehen. Das ist mit der Kern des Problems. Gleichzeitig müssen wir eine Wut-Empathie kultivieren. Eine Welt, in der Individuen sich nicht nur über ihre eigenen Belange ärgern, sondern sich auch für die Bedürfnisse von Anderen mit einsetzen: Nur so entsteht eine fürsorgliche Gemeinschaft. Wir sind erst frei, wenn alle frei sind. Erst, wenn jede Person in unserer Gesellschaft auf Diskriminerung oder Gewalt hinweisen kann, ohne dass sie als inhärent irrational oder als viel zu emotional stigmatisiert wird.
Wenn Frauen allein wütend sind, werden sie nicht ernst genommen. Sind sie es im Kollektiv, können sie Berge versetzen. Packen Männer mit an, ist Gleichberechtigung keine Theorie mehr, sondern Alltag. Ohne die gemeinschaftliche und kollegiale Wut, könnten wir heute nicht wählen, politische Ämter einnehmen oder ein eigenes Bankkonto eröffnen. Wut kann, wenn sie richtig kanalisiert wird, die Welt verändern. Sie kann ein Katalysator sein, ein Motor. Warum also nutzen wir diese Kraft nicht?
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/meinung/debatte_artikel,-debatte-muessen-wir-endlich-einmal-richtig-ausrasten-_arid,1940412.html