Debatte

Wie fair geht es an deutschen Schulen wirklich zu, Frau Graf?

Kommt ein Kind mit - oder wird es abgehängt? Die Antwort darauf gibt oft immer noch das Elternhaus - gerecht ist das nicht. Für Lisa Graf, Lehrerin aus Mannheim, heißt die Lösung deshalb: Ganztagsschule. Ein Gastbeitrag

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Lisa Graf
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Eine Mutter hilft ihrer Tochter bei den Hausaufgaben. Doch es gibt auch Eltern, die dies und vieles andere nicht leisten können – was bedeutet das für deren Kinder? © Istock

Mannheim. Seit September ist mein Kind ein Schulkind. Und ebenso lange bin ich mit Dranbleiben beschäftigt. Dranbleiben, das bedeutet: Besorgen, bezahlen, beschriften, bekleben, besprechen, begleiten. Unser Bildungssystem will es so - denn es rechnet die eifrige Mitarbeit der Eltern von Anfang an in die Gleichung vom schulischen Erfolg mit ein. Man kann sogar sagen: In einer typischen deutschen Bildungsbiografie sind Eltern nachweislich die wichtigsten Weichensteller.

Gerade für Eltern aus dem bürgerlich-akademischen Milieu mag das weder überraschend noch besorgniserregend klingen. Wir wollen doch schließlich alle das Beste für unsere Kinder, oder nicht? Tatsächlich steckt dahinter allerdings ein grundlegender Ungerechtigkeitsfaktor unseres Bildungssystems. Denn was passiert mit all jenen Kindern, deren Eltern nicht die finanziellen und persönlichen Kapazitäten haben, um konstant dranzubleiben? Ich habe es in den vergangenen drei Schuljahren als Vertretungslehrerin auf einer Haupt- und Realschule erlebt.

Es wird zwangsläufig nur die Leistung in Form von Noten bewertet, nicht auf das wahre Potenzial geachtet

Nachdem ich zuvor mein Referendariat an einem Gymnasium im Stadtviertel mit den schönen Cafés und den sanierten Altbauten beendet hatte, trieb mich eine Frage um: Wo sind die Kids, die ich aus meiner eigenen Kindheit kenne? Die nicht mit der Edelstahlbrotdose zur Schule kommen, die nicht die 500 Euro für die Skifreizeit haben, am Wochenende keinen Familienausflug ins Museum oder in den Wald machen? Bei denen nicht schon in der ersten Klasse das Abitur als Ziel in den Köpfen ihrer Eltern stand?

Ich fand sie am Stadtrand, in einer Schule zwischen Betonklötzen, fernab von Jugendstil und Cafés. Meine Erfahrungen dort bestätigten die Zahlen der Statistiken: Während die Elternschaft auf den Gymnasien zu über 60 Prozent aus Akademikern besteht, sind es auf Hauptschulen gerade mal 17 Prozent. Mehr als die Hälfte der Eltern an Hauptschulen haben selbst einen Hauptschul- oder gar keinen Schulabschluss. Viele Familien meiner neuen Schule einten zudem Fluchtgeschichten, die Arbeit im Niedriglohnsektor oder Arbeitslosigkeit.

Neben den Schülern befindet sich im Klassenzimmer ein Haufen an häuslichen Problemen

Die Arbeit als Lehrkraft an einer solchen Schule mag vordergründig der Arbeit auf dem Gymnasium ähneln: Man steht alleine vor 20 bis 30 Kindern und versucht, den Stoff aus dem Bildungsplan zu vermitteln. Der entscheidende Unterschied: Auf dem Gymnasium ist das machbar, auf einer Schule in benachteiligter Lage lässt sich dieser Auftrag kaum erfüllen. Denn neben den 20 bis 30 Schülern befindet sich dort im Klassenzimmer noch ein ganzer Haufen an häuslichen Problemen, die die Kinder mit in die Schule bringen. Was sich hingegen nicht im Klassenzimmer befindet: eine angemessene Unterstützung für die Schüler und ihre Lehrkraft. Das könnte mindestens eine Sozialarbeiterin pro Klasse sein, Psychologen im Hintergrund oder eine digitale Grundausstattung, die es allen ermöglicht, am Ball zu bleiben.



  • Lisa Graf ist Lehrerin und lebt in Mannheim. Sie unterrichtete am Gymnasium, Haupt- und Realschule und ist überzeugt: Für Chancengerechtigkeit braucht es einen Neustart.
  • In diversen Medien (u.a. „Süddeutsche Zeitung“, „Deutschlandfunk“, „Zeit online“) schreibt und spricht sie über Bildungsgerechtigkeit und die Baustellen des Bildungssystems.
  • Sie ist Autorin des Buches „Abgehängt - Von Schule, Klassen und anderen Ungerechtigkeiten“ (September 2022 im Heyne Verlag erschienen) und betreibt einen eigenen Blog (www.meine-klasse.com).

Das bedeutet: Während ich als Lehrerin auf dem Gymnasium vor allem damit beschäftigt war, die Leistungen der Kinder und Jugendlichen voranzubringen, nahm ich auf der Haupt- und Realschule alle möglichen Rollen ein, zum Beispiel die der Sozialarbeiterin.

Während ich also im September die vielen Arbeitsmaterialien meines Sohnes sortierte, fragte ich mich einmal mehr: Wie sollen das Eltern schaffen, die weniger gut aufgestellt sind? Dabei wusste ich die Antwort aufgrund meiner eigenen Erfahrungen bereits: Sie schaffen es nicht.

Grundschulempfehlung verstärkt soziale Ungleichheiten massiv 

So wird noch vor der Einschulung der Grundstein für den Bildungserfolg eines Kindes gelegt. Kommt es mit oder wird es abgehängt? Abgehängt etwa, weil es seine Materialien nicht beisammen hat und die Hausaufgaben deswegen nicht erledigen kann. Abgehängt, weil es zu Hause keine Bücher vorgelesen bekommt, weil schon seine Eltern keinen Zugang zu Literatur hatten. Im Schulverlauf abgehängt, weil es bei jedem Schulausflug Anträge auf Förderung stellen muss, die zu Hause zu Frust und Diskussion führen und deren Mittel dann doch nicht genug abdecken.

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Am Ende der Grundschule dann die folgenschwere Empfehlung: Gymnasium oder nicht? Folgenschwer, weil die Grundschulempfehlung soziale Ungleichheiten weiter massiv verstärkt. Der Grund: Es wird dabei zwangsläufig nur die Leistung in Form von Noten bewertet, nicht auf das wahre Potenzial geachtet. Da Kinder aus sozioökonomisch schwachen Familien nun häufig schlechtere Noten als ihre privilegierteren Mitschüler haben, gehen erstere dann eben auch häufiger auf Haupt- und Realschulen, letztere auf Gymnasien. Dass die schlechteren Leistungen aber zu großen Teilen der fehlenden häuslichen Unterstützung geschuldet sind, wissen zwar die meisten Fachleute - kümmern tut es aber niemanden.

Umgang der Eltern mit der Grundschulempfehlung abhängig von der sozialen Herkunft

Gerade Eltern aus bürgerlichen Milieus scheinen diesen Befund oft nicht nachvollziehen zu können. Schließlich haben die eigenen Kinder - und zuvor man selbst - ihren Bildungserfolg doch ausschließlich aufgrund ihres Talents erzielt, so die Überzeugung.

Folgendes Beispiel kann beim Verständnis helfen: Felix hat in Mathe eine 2. Seine Eltern haben mit ihm immer die Hausaufgaben besprochen und bei Verständnisproblemen einen Studenten zur Nachhilfe engagiert. Sara hat in Mathe eine 3. Sie wohnt mit ihren drei Geschwistern in einem Zimmer, ihre Eltern streiten oft, der Fernseher läuft bis spät in die Nacht im Dauerbetrieb. Nach der Logik unseres Schulsystems wäre Felix nun der bessere Schüler in Mathe - aber ist das wirklich so?

Unser Bildungssystem fördert die Kinder mit den besten Startbedingungen und sortiert die anderen aus

Aber es wird noch ungerechter: Denn selbst wenn diese Kinder am Ende ihrer Grundschulzeit die gleichen Leistungen wie ihre Mitschüler aus besser gestellten Elternhäusern abliefern, heißt das noch lange nicht, dass sie die gleiche Empfehlung bekommen. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Kinder aus sozial schwachen Milieus weniger wahrscheinlich eine Gymnasialempfehlung bekommen als ihre besser situierten Mitschüler - trotz gleicher Leistung. Hinzu kommt, dass auch der elterliche Umgang mit der Grundschulempfehlung abhängig von der sozialen Herkunft ist. Mehr als die Hälfte der Eltern mit einem niedrigen sozioökonomischen Status folgen der Empfehlung der Lehrkräfte, während fast 80 Prozent der Akademikereltern ihr widersprechen, wenn auf dem Empfehlungsschreiben nicht das gewünschte Gymnasium steht.

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Die Zahlen zeigen einmal mehr, dass wir ein riesiges Problem haben: Unser Bildungssystem fördert die leistungsstarken Kinder mit den besten Startbedingungen und sortiert die anderen aus.

Was es bedeutet, aussortiert zu sein, spüren die Kinder aber längst nicht nur am Vormittag im Unterricht. Denn zu einer ganzheitlichen Bildung gehören eben auch die Nachmittage und all das, was ein Kind neben der Schule lernt. Und auch hier haben die von Haus aus Privilegierten deutlich mehr Chancen. Denn Teilhabe zu erfahren ist eine Ressourcen-Frage. Um die eigenen Kinder zur Musikschule und zum Tennis zu fahren, braucht es Geld, mentale Gesundheit und vor allem: Zugang. Familien, bei denen all das knapp ist, können ihren Kindern das nicht oder nur begrenzt ermöglichen. Die Folge: Kinder aus sozio-ökonomisch benachteiligten Elternhäusern verbringen ihre Freizeit deutlich häufiger vor dem Bildschirm, essen ungesünder, bewegen sich weniger.

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Die Idee, dass Schule hier einiges abfangen könnte, ist natürlich nicht neu. Mit der Einführung von Ganztagessschulen sollte auch in Deutschland erreicht werden, dass qualitativ hochwertige Förderung bereits von der Schule bereitgestellt wird und nicht vom Elternhaus abhängt. Das Konzept sieht vor, dass durch die Verlängerung des Schultages mehr Zeit für die individuelle und ganzheitliche Entwicklung der Kinder zur Verfügung steht. Die klassischen Schulfächer werden dabei über den ganzen Schultag - Vormittag und Nachmittag - verteilt, dazwischen gibt es ein breites Angebot von Talent- und Interessenförderung. Das Fachwort dafür lautet Rhythmisierung.

In Ländern wie Kanada, Estland und Finnland ist diese Schulform der Standard und funktioniert nachweislich hervorragend. In Deutschland hingegen gibt es wieder einmal Bedenken (und 16 verschiedene bildungspolitische Ansätze). Deswegen setzt man hierzulande bei den meisten Ganztagsschulen auf Freiwilligkeit. Familien können also selbst entscheiden, ob ihr Kind ein Ganztagskind ist oder nicht. Das wiederum widerspricht dem Kern der Ganztagsidee - und verhindert, dass die Schulform ihre Stärken ausspielen kann. Denn wenn nicht alle Kinder im Ganztag sind, kann auch keine Rhythmisierung stattfinden.

Die Folge: Vormittags normaler Unterricht, am Nachmittag vor allem reine Betreuung - so sieht die ernüchternde Realität eines vielversprechenden Konzepts in Deutschland meist aus. Auch Dr. Anna-Maria Seemann vom Ganztagsschulverband sieht in der Freiwilligkeit ein Problem: „Wenn die Zielsetzung ist, dass durch die Ganztagsschule mehr Bildungsgerechtigkeit erreicht werden soll, dann klappt das nur, wenn das Angebot bindend ist.“

Konsequent und bindend umgesetzt, würde das Konzept Unterstützung für alle Familien bieten

Wir befinden uns also in einem Dilemma: Eltern befürchten, ihre Kinder könnten nicht genug Förderung erhalten, weil sie sehen, dass das aktuelle Angebot der Ganztagsschule nicht ausreicht. Folglich holen sie ihr Kind nachmittags ab, um es in den Sportverein zu fahren. Die Ganztagsschulen wiederum verzeichnen derweil zu wenig Anmeldungen und können deswegen ihr Angebot nicht ausbauen. Dabei würde das Konzept - konsequent und bindend umgesetzt - durchaus Unterstützung für alle Familien bieten: Auch gestresste Akademikereltern haben es leichter, wenn sie ihr Kind nicht von der Schule zum Tennis und zur Musikschule bringen müssen, sondern sich auf qualitativ hochwertige Förderung in der Schule verlassen könnten.

Was wir brauchen, sind also Einigkeit und Mut: Einigkeit darüber, dass wir allen Kindern gerecht werden wollen. Mut, ein etabliertes, aber längst überholtes System endlich aufzubrechen.

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