Der Kontrast hätte kaum schärfer sein können. Bei der Fußball-WM in Katar hat die deutsche Öffentlichkeit politische Themen diskutiert, etwa die schlechten Arbeitsbedingungen auf den Baustellen. Die Schwellenländer dagegen feierten die WM als Beleg für ihren Aufstieg. Unter der Überschrift „Was uns in die WM in Katar über die Welt erzählt“ vertraten die Autoren Tony Karon und Daniel Levy in der Zeitschrift „The Nation“ die These, dieses Turnier habe gezeigt, dass „Milliarden von Menschen nicht mehr glauben, dass die Vereinigten Staaten und ihr Gefolge die Welt regieren“.
Mit ihrem wirtschaftlichen Erfolg heben die Schwellenländer auch immer mehr ihre Stimme
Der Aufstieg der Schwellenländer wird immer augenfälliger. Ihr Gewicht in der Weltwirtschaft ist in den vergangenen Jahren rapide gewachsen. Unser Fokus auf China verdeckt, wie sehr sich andere Länder entwickelt haben. Auch viele andere Länder haben ihren Rückstand aufgeholt. Indien, Malaysia, Vietnam, die Philippinen, Brasilien, Chile, aber auch Südafrika und Nigeria haben kräftig an Gewicht in der Weltwirtschaft zugelegt und damit an politischer Bedeutung.
In der Energiekrise, ausgelöst durch steigende Ölpreise und den russischen Krieg gegen die Ukraine, hat die Bundesregierung eine rege Reisediplomatie entwickelt. So ist der Bundeswirtschaftsminister Habeck auf der Suche nach Erdgas nach Katar gereist und auch nach Namibia, um dort grünen Wasserstoff für die deutsche Wirtschaft zu produzieren.
Schwellenländer nutzen das schwache Wachstum europäischer Unternehmen
Mehr als 27 Millionen Euro will die Bundesregierung in die Gewinnung von Wasserstoff in Namibia investieren. Doch die Regierung in Windhoek hält sich alle Optionen offen, stellt dem Ölkonzern Shell eine Konzession für die Förderung von Mineralöl in Aussicht und sondiert in den USA, ob nicht auch dort die Bereitschaft besteht, in grünen Wasserstoff im Südwesten Afrikas zu investieren.
Auch wenn die Chancen auf ein Engagement der US-Regierung schlecht stehen, zeigen diese Aktivitäten, wie sehr die ärmeren Länder an Selbstbewusstsein gewonnen haben und sich nicht mehr einseitig von den reichen Ländern in Europa abhängig machen wollen.
Während Westeuropa in den vergangenen Jahren damit beschäftigt war, die wirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise von 2008 zu verarbeiten, haben die meisten Schwellenländer das schwache Wachstum europäischer Unternehmen genutzt, um in die Lücken zu stoßen.
Christian Hiller von Gaertringen
- Christian Hiller von Gaertringen, 1964 geboren, hat Wirtschaftswissenschaften an der Université Lumière Lyon 2 und der Wirtschaftsuniversität Wien studiert.
- Er war Redakteur bei „WirtschaftsWoche“, „WELT“ sowie „Frankfurter Rundschau“ und hat als Korrespondent für französische Zeitungen (unter anderem „Le Monde“, „Le Progrès“) in Deutschland gearbeitet.
- Von 2001 bis 2017 war er Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit den Schwerpunkten Wirtschaft und Geopolitik, bevor er die Beratungsgesellschaft Africa Partners GmbH gründete.
- Er ist Mitglied des Thinktanks La Verticale Afrique-Méditerrannée-Europe in Paris zur Integration des Raumes Afrika-Mittelmeer-Europa sowie Mitglied im Beirat des Zentrums für Inter-Disziplinäre Afrika-Forschung (ZIAF) der Goethe-Universität Frankfurt.
- Vor Kurzem ist bei FBV sein Buch „Die Neuordnung der Welt. Der Aufstieg der Schwellenländer und die Arroganz des Westens“ erschienen.
Damit haben sie die Spielregeln verändert, wie sie der Westen nach dem Fall der Berliner Mauer festgelegt hatte. Viele im Westen dachten damals, dass nun der liberale Kapitalismus gesiegt hat und fortan die Globalisierung die Welt neu ordnen würde. Eine klare Arbeitsteilung war damals vorgesehen: Im Westen sollten die Produkte der Zukunft erdacht, entworfen und vermarktet werden. In den Schwellenländern sollten diese Produkte nach den Vorgaben der westlichen Konzerne produziert werden, zu möglichst niedrigen Lohnkosten.
Doch die Unternehmen in den Schwellenländern hielten sich nicht an diese Ordnung der Welt. Viele Unternehmer erkannten die Schwäche der einstigen Industrieländer: Die Unternehmen dort sind zu langsam und zu wenig innovativ. Auch werden die europäischen Konkurrenten zu sehr von Regulierungen und Bedenken gebremst. Während Europa die Digitalisierung und Künstliche Intelligenz vornehmlich unter dem Aspekt ihrer Risiken diskutiert, schreiten IT-Konzerne aus den Schwellenländern beherzt voran.
Schwellenländer wollen die Weltordnung nicht mehr ohne Weiteres akzeptieren
Die Liste der größten IT-Dienstleister der Welt führen nach wie vor US-Konzerne an: Dell, IBM, Cisco und Oracle liegen immer noch vorne. Auch SAP belegt einen vorderen Rang. Doch hat sich auch schon Tata Consultancy Services aus Indien unter den globalen Top Ten etabliert.
Genauso dominieren US-Konzerne wie Apple, Microsoft, Meta oder Alphabet den globalen Tech-Sektor. Aber auch Taiwan Semiconductor aus Taiwan, Tencent aus China oder Samsung und SK Hynix aus Südkorea haben sich unter die Top 20 weltweit gemischt.
Mit ihrem wirtschaftlichen Erfolg heben die Schwellenländer auch immer mehr ihre Stimme und wollen die Weltordnung, wie sie jahrzehntelang von den USA beherrscht worden ist, nicht mehr ohne Weiteres akzeptieren.
Der Westen muss sich eingestehen, dass er die Welt nicht mehr nach seinem Gutdünken dirigieren kann
So ist die weltweite Nachfrage nach Steinkohle so groß wie nie - ungeachtet der Bemühungen Europas, die Energiewende in die Welt zu tragen. Die starke Nachfrage nach Kohle hat den Aktienkurs des südafrikanischen Steinkohle-Förderers Thungela Resources im vergangenen Jahr um sagenhafte 239 Prozent in die Höhe schnellen lassen.
Steinkohle liefert zuverlässig Energie zu günstigen Preisen und ist damit trotz allen Drucks aus dem globalen Norden nach wie vor eine wichtige Energiequelle, die das Wirtschaftswachstum in den Schwellenländern anfeuert - damit deren Unternehmen die Produkte liefern können, auf die der Westen angewiesen ist.
Dies bedeutet nicht, dass der Westen alle Entwicklungen in den Schwellenländern gutheißen sollte. Es ist richtig, seinen Einfluss geltend zu machen und dazu beizutragen, dass sich beispielsweise die Arbeitsbedingungen in den Schwellenländern verbessern, dass Frauen faire Chancen erhalten und dass auch in den ärmeren Ländern klimaschonend gewirtschaftet wird.
Welt braucht eine neue Partnerschaft zwischen entwickelten Ländern und wachstumsstarken Regionen
Doch der Westen muss sich eingestehen, dass er die Welt nicht mehr nach seinem Gutdünken dirigieren kann. Auf der Weltklimakonferenz im vergangenen Jahr in Ägypten haben die Schwellenländer unmissverständlich klar gemacht, dass sie kein Energie-Diktat aus dem Westen akzeptieren werden. Vor allem wollen sie nicht unter den Konsequenzen einer Energiepolitik der entwickelten Länder leiden, die jahrzehntelang hemmungslos Kohlendioxid in riesigen Mengen in die Atmosphäre geblasen haben.
Wir müssen uns bewusst machen, dass Schwellenländer stärker ihre Interessen geltend machen werden. Selbst wenn sie unseren Vorstellungen folgen, so tun sie es häufig aus anderen Motiven, als wir glauben. Viele Regierungen im globalen Süden beispielsweise fördern - genau wie wir - Solarstrom und Energie aus Windkraft. Marokko beispielsweise verfolgt eine Energiewende, die in vielerlei Hinsicht ambitionierter ist als die in Deutschland. So hat die Regierung in der Nähe der Stadt Ouarzazate das größte Solarkraftwerk der Welt gebaut.
Hauptantrieb war ursprünglich weniger die Sorge um das Weltklima, sondern das Ziel, sich unabhängiger von teuren Ölimporten zu machen. Das entwertet nicht das Engagement von Marokkos König Mohammed VI. für eine nachhaltige Energiepolitik, sondern zeigt, dass der Westen die Schwellenländer besser verstehen muss, um gemeinsam zu besseren Lösungen zu kommen.
Übrigens: Auch wenn der Beitrag Deutschlands bei der Finanzierung und dem Bau groß war, so kam die Finanzierung zum größten Teil aus Saudi-Arabien. Auch dies zeigt, wie stark die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Schwellenländern zunehmen.
Wir müssen in einen echten Dialog mit den Schwellenländern eintreten
Gerade deshalb braucht die Welt eine neue Partnerschaft zwischen den entwickelten Ländern und den wachstumsstarken Regionen. Der Globus lässt sich nicht mehr in Geberländer und Empfänger von Entwicklungshilfe einteilen. Wir müssen in einen echten Dialog mit den Schwellenländern eintreten. Das ist ein schmerzhafter Prozess. Denn: Wie sollen wir einen ehrlich gemeinten Dialog mit den Emiren von Katar über Frauenrechte führen, ohne unsere grundlegenden Prinzipien zu verletzen?
Doch wenn wir diesen Dialog nicht führen und nicht bereit sind, auch von den Schwellenländern zu lernen, werden wir in Europa von den Wachstumsregionen der Welt abgehängt werden.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/meinung/debatte_artikel,-debatte-wie-wird-sich-die-welt-neu-ordnen-herr-hiller-von-gaertringen-_arid,2036667.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/themen-schwerpunkte_dossier,-fussball-em-2021-_dossierid,241.html
[2] https://www.thenation.com/article/world/world-cup-2022-qatar/