Debatte

Was ist der Sinn des Schenkens, Herr Quarch?

Geschenke haben nichts mit Konsum zu tun, sondern sie sind ein Ausdruck von Verbundenheit. Viele Menschen scheinen das vergessen zu haben. Ein Gastbeitrag

Von 
Christoph Quarch
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Woman in knitted sweater holding a present. Gift is packed in craft paper with white felt snowflake and red fir tree. DIY way to pack Christmas presents. © Getty Images/iStockphoto

„Wir schenken uns nichts.“ Sätze wie diesen hört man oft in diesen Tagen. Man hört sie von Ehepaaren, Geschwistern, Lebenspartnern oder Freundinnen. Man hört sie von Alten und von Jungen. Und meistens folgt ihnen eine Erklärung: „Wir haben doch eh schon alles.“ Oder: „Man weiß doch gar nicht, was man noch verschenken kann.“ Oder: „Bevor ich irgendetwas schenke, was dann doch bloß rumsteht, lasse ich es lieber.“ Das klingt vernünftig und ist es vielleicht auch. Genauso wie der gern genutzte Ausweg, der sich allen bietet, die dann doch nicht ganz auf ein Geschenk verzichten wollen: ein Gutschein. Da kann man am wenigsten falsch machen.

Irrtum. Nichts ist falscher als ein Gutschein. Nichts entfernt uns so sehr von dem Zauber der Geschenke, die in fernen Kindheitstagen im Weihnachtszimmer unter dem Christbaum lagen. Wir hatten ihnen entgegengefiebert und gehofft, das Christkind würde unsere Wünsche erfüllen. Es gab Enttäuschungen, es gab Überraschungen - aber immer gab es eine unvergleichliche Magie, die unsere Kinderherzen höherschlagen ließ.

Später wurden wir selbst Eltern und versuchten, unseren Kindern die Magie des Schenkens zu vermitteln. Wir hofften, in ihnen jenes Augenleuchten zu entfachen, das in uns schon längst verloschen war. Bis dann irgendwann die Kinder größer wurden und uns die Magie des Schenkens ganz verloren ging: „Wir schenken uns nichts.“ „Man hat ja eh schon alles.“ Maximal ein Gutschein: die Bankrott-Erklärung. Der Umstand, dass immer mehr Menschen Gutscheine verschenken, ist ein Symptom des Niedergangs der Schenkkultur.

Der Gastautor

Dr. phil. Christoph Quarch, 1964 in Düsseldorf geboren, ist Philosoph und Bestsellerautor. Er ist Gründer der neuen Platonischen Akademie. Mit seiner Familie lebt er heute in Fulda.

Quarch studierte Philosophie und Evangelische Theologie in Bielefeld, Heidelberg und Tübingen. Er promovierte bei Günter Figal über Platons Philosophie der Lebendigkeit.

Quarchs Philosophie steht in der Tradition der Philosophischen Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer, für den er als wissenschaftliche Hilfskraft tätig war.

Heute berät er Unternehmen, veranstaltet Philosophiereisen und lehrt an verschiedenen Hochschulen. Mit seiner SWR-Radiokolumne „Der Frühstücks-Quarch“ sowie mit seinen Podcasts, Artikeln und Büchern erreicht er ein breites Publikum.

Unter anderem von ihm erschienen: „Kann ich? Darf ich? Soll ich? Philosophische Antworten ...“ (legendaQ 2021); „Eros & Harmonie. Eine Philosophie der Glückseligkeit“ (legendaQ 2020); „Der kleine Alltagsphilosoph“ (GU 2014).

Man muss sich dessen nicht grämen. Es musste so kommen. Weil wir in einer Welt leben, die den Sinn des Schenkens vergessen hat. Er wurde überlagert und verschattet von einer Denkweise, die wir alle verinnerlicht haben und die uns bei allem, was wir tun und lassen, unbewusst bestimmt. Wir denken und wir handeln ökonomisch. Wir gehen davon aus, dass jeder Mensch, bei allem, was er tut, ein Ziel verfolgt. Wir glauben, dass uns andere nur deshalb etwas schenken, weil sie auf eine Gegenleistung spekulieren. Wir meinen, dass Geschenke eigentlich nichts anderes sind als Waren, die wir unentgeltlich nehmen oder geben können. Wir tun so, als sei das Sich-beschenken-Lassen eine Form des kostenlosen Konsumierens. Wir glauben, Geschenke müssten irgendwie vergolten werden. Wir fühlen uns beschämt, wenn wir Geschenke annehmen und fürchten, andere zu beschämen, wenn wir ihnen Geschenke machen.

Kurz: Wir nehmen an, dass Schenken ein verkappter Handel ist, der dem Muster „do ut des“ folgt: „Ich gebe, damit du gibst.“

Das erklärt die Krise des Schenkens: Weder sind wir in der Lage, selbst zu schenken noch uns beschenken zu lassen. Wenn wir Schenken nur noch in den Kategorien ökonomischer Transaktionen deuten können, entzieht sich uns nicht nur seine Magie, sondern auch sein Sinn. Und das ist schade: Denn Schenken ist ein Ausdruck menschlicher Verbundenheit. Und der Sinn des Schenkens hat auch dann Bestand, wenn die Menschen ihn vergessen haben. Was ist der Sinn des Schenkens?

Das Schenken gehört nicht in die Welt von Handel und Konsum. Schenken ist kein Akt ökonomischer Transaktion, sondern sozialer Kommunikation.

Beim Schenken geht es nämlich eben nicht darum, dass ein Gut oder eine Ware den Besitzer wechselt, sondern dass der Schenkende dem Schenkenden etwas mitzuteilen hat - und zwar nicht irgendetwas, sondern etwas Bedeutungsvolles, das allein durch Worte nicht ausgedrückt werden kann, sondern der Materialisierung in Gestalt des Geschenkes bedarf.

Ein Geschenk - ein wirkliches Geschenk - ist immer ein Symbol: ein Bedeutungsträger. Der Blumenstrauß spricht von der Lebendigkeit, die wir verschenken wollen; die Flasche Wein erzählt von Lebensfreude und Genuss; der Schmuck ist Ausdruck höchster Wertschätzung der Beschenkten; das Kunstwerk ist die Manifestation des guten Geistes, mit dem wir andere begeistern wollen.

Geschenke sind Botschaften. Die Kunst des Schenkens besteht darin, sich zu überlegen, welche Botschaft wir vermitteln wollen: Was wollen wir unserem Partner sagen? Haben wir unserer Partnerin überhaupt noch etwas zu sagen? Was ist uns so wichtig, dass wir ihm durch unser Geschenk Ausdruck verleihen wollen? Wo Geschenke Antworten auf diese Fragen sind, steigt die Chance, dass mit ihnen die Magie des Schenkens wiederkehrt.

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Aber es gibt nicht nur eine Kunst des Schenkens. Es gibt auch eine Kunst des Sich-beschenken-Lassens. Sie setzt Offenheit und Mut voraus: Offenheit, das anzunehmen, was der Schenkende mir sagt. Mut, mich auf das einzulassen, was die Schenkende mir anvertrauen möchte. Und sie setzt Bescheidenheit voraus: die Kunst, sich damit zu bescheiden, etwas zu empfangen, ohne dem etwas entgegnen zu müssen. Sich beschenken lassen, ist ein Akt der Freiheit.

Der Kunst des Schenkens und der Kunst des Sich-Beschenken-Lassens ist eines gemein: Sie sprengen unsere gewöhnlichen Verhaltensmuster. Sie lösen uns aus unserer oft gar nicht mehr bewussten Selbstbezüglichkeit: Nein, beim Schenken geht es nicht um mich. Beim Schenken geht es immer nur um die Beschenkten - nicht darum, was ich ihnen sagen will, sondern was ich ihnen zu sagen habe. Und beim Beschenkt-Werden geht es immer nur um die Schenkenden: Was sagt mir ihr Geschenk? Nicht: Wie kann ich mich dafür revanchieren?

Die Magie des Schenkens wird sich immer dann entfalten, wo die Selbstbezüglichkeit der Schenkenden und der Beschenkten hinter den symbolischen Gehalt des Geschenkes zurücktritt.

Der Symbolgehalt eines Gutscheins aber lautet: „Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Also sieh zu, dass du dir selbst eine Freude machst!“ Das ist verstörend - gerade, weil es meist anders gemeint war. Etwa so: „Ich will dir doch nicht irgendetwas aufzwingen, was dir am Ende nicht gefällt. Nein, ich lasse dir die Freiheit, das zu kaufen, was du gerne haben willst.“ Aber gerade hier liegt das Problem: Anstatt die Beschenkten aus ihrer Selbstbezüglichkeit zu lösen und ihnen die Chance zu geben, etwas Neues, Ungewohntes zu erhalten, wird sie verstärkt. Man stiehlt sich so aus der Verantwortung, die einem Schenkenden obliegt: der Verantwortung, sich so sehr mit dem anderen zu befassen, dass man ihm wirklich etwas zu sagen hat - etwas, das ihn wirklich angeht.

Das ist nun der Grund, warum Geschenke idealerweise materiell sind. Das, was sie zu sagen haben, hat Bestand. Deshalb kann ein wirkliches, symbolisch aufgeladenes Geschenk niemals zum Staubfänger mutieren oder bloßer Plunder sein - zumindest nicht in einer Welt, in der es noch Bewusstsein für den Sinn des Schenkens gibt. Wo Geschenke aber nur als kostenlos erhaltene Konsumartikel angesehen werden, ist ihr Schicksal schon besiegelt: Staubfänger. Dann besser nichts. Denn Staubfänger gibt es, weiß Gott, mehr als genug.

Die Welt, in der wir leben, ist eine durch und durch ökonomisierte Welt. Warum lassen wir es nicht dabei bewenden? Man kann doch auch ohne Geschenke leben. Selbst Weihnachten funktioniert ohne den Geschenke-Rummel - zumindest, wenn es ein Weihnachten ohne die Kinder ist. Ja, es funktioniert. Und mehr erwarten wir oft gar nicht mehr - wir, die Kinder der ökonomischen Moderne. Aber reicht uns das wirklich? Reicht uns wirklich ein Weihnachtsabend ohne jegliche Magie? Wollen wir nicht angesprochen sein? Und ist die Erinnerung an das weihnachtliche Kinderaugenleuchten wirklich nur ein Anflug präseniler Nostalgie? Diese Fragen sollen mein Geschenk sein. Sie gehen Sie etwas an, hoffe ich. Frohe Weihnachten.

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