Kürzlich fand sich im Lokal-Blättchen einer kleinen Gemeinde, nicht weit von Tübingen entfernt, eine Todesanzeige eigener Art, berührend und verstörend zugleich. Man trauere um den Verstorbenen, so hieß es hier. Und wolle sich nun gemeinsam seiner erinnern. Alle seien herzlich zur Abschiedsfeier eingeladen. Allerdings gab es keinen Hinweis auf einen konkreten Ort oder ein Begräbnis, keine Adresse eines Friedhofs, absolut nichts. Nur eine Zoom-Meeting-ID und einen Kenncode für die virtuelle Begegnung an einem Samstagnachmittag ab 14 Uhr.
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Der Bildschirm, das iPad, der eigene Rechner - all das verwandelt sich hier in etwas, was die Internetsoziologin Sherry Turkle ein evokatives Objekt nennt. Sie bezeichnet mit diesem Ausdruck Objekte, die zum Nachdenken zwingen. Die tiefgründige Reflexionen auslösen. Und die durch ihre schlichte Existenz und ihre Dominanz als Virtualisierungsmaschinen der Lebenswirklichkeit große, schwere Fragen hervor bringen, die von der Realität des Virtuellen, der Natur der Intimität und dem Wesen von menschlichen Begegnungen handeln. Diese Fragen lauten zum Beispiel: Wie wichtig ist die körperliche Präsenz, bildet sie - in existenziellen Situationen - so etwas wie das Eigentliche? Und was fehlt, wenn Beerdigungen gestreamt werden, letzte Worte und Wünsche über Facetime geäußert werden, Kerzen nur online angezündet werden? Was geht verloren, wenn man sich nur am Bildschirm sieht? Wie lässt sich dieser besondere „Rest“ der realen, physischen Zusammenkunft fassen, der eben nicht digital vermittelbar ist?
Vor einiger Zeit erzählte mir einer der Begründer der amerikanischen Hospizbewegung, Frank Ostaseski, eine Geschichte. Ostaseski hatte als Gründer eines Hospiz in San Francisco mehrere tausend Menschen bis zum Ende begleitet, viele von ihnen waren obdachlos, drogensüchtig, an Aids erkrankt und ohne Krankenversicherung. Während mancher Wochen auf dem Höhepunkt der Aids-Epidemie in San Francisco starben in seinem Hospiz 30, 40 Menschen, denen er versuchte gemeinsam mit ein paar Helfern beizustehen. Der Tod, der hier wütete, war nah, sichtbar, konkret. Es war möglich, den Sterbenden unmittelbar beizustehen, an ihrem Bett zu sitzen.
Der Gastautor
- Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Er erforscht die Macht der öffentlichen Empörung und die Zukunft der Reputation.
- Neben wissenschaftlichen Aufsätzen veröffentlicht er Essays und Kommentare in vielen Zeitungen.
- Seine Bücher mit dem Philosophen Heinz von Foerster („Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“) und dem Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun („Kommunikation als Lebenskunst“) wurden Bestseller.
- 2018 erschien „Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung“ (Hanser-Verlag); 2020 publizierte er das Buch „Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik“ gemeinsam mit dem Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun.
Dann, Jahrzehnte später, Corona. Die Infektionsgefahr zwang die Sterbenden in die Isolation. Frank Ostaseski hatte die Pandemie, inzwischen selbst ein alter Mann, halb blind und gebeutelt von mehreren Schlaganfällen, wesentlich vor dem Bildschirm sitzend erlebt. Er hatte Vorträge gehalten und versucht, Ärztinnen, Ärzten, Pflegerinnen und Pfleger, die in den Notaufnahmen des Landes tätig waren, durch seine Erfahrung zu unterstützen. Eines Tages, so berichtete er, habe eine Frau seinen Rat gesucht, die die letzten Atemzüge ihres Vaters auf dem iPad erlebt hatte, getrieben von dem verzweifelten Versuch ihm, der in einem anderen Land und halb bewusstlos im Krankenhaus lag, noch einen Kuss zu geben, ihm also, die Lippen auf den Bildschirm gepresst, noch irgendwie nahe zu sein. In diesem Moment sei der Vater dann gestorben. Die Folge: ein diffuser, seltsam unbestimmter, eigentümlich uneindeutiger Schmerz, auch ausgelöst durch eine virtuell nicht vollständig einlösbare Erfahrung und den eben nicht wirklich geglückten Abschied.
An diesem Beispiel wird dreierlei offenbar. Zum einen das Doppelgesicht digitaler Medien, ihre Zwitter-Natur. Sie ermöglichen Beziehungen und begrenzen diese, beides gleichzeitig. Sie sind Instrumente der Weitung und Öffnung und der Schrumpfung von Wirklichkeiten, dies in je unterschiedlicher Dosierung und Intensität. Sie bieten wunderbare, großartige Möglichkeiten, über Zeit- und Raumgrenzen hinweg Kontakte zu pflegen und sich auszutauschen. Sie engen jedoch das Spektrum der menschlichen Erfahrungen unvermeidlich ein. Und erzeugen eine seltsam paradoxe Fern-Nähe, eine Begegnung ohne die Direktheit der unmittelbaren Erfahrung, ohne die körperliche Berührung, aber eben auch ohne die plötzliche, überraschende Tiefe, die vielleicht nur face to face möglich ist und die ein Abschied eigentlich braucht.
Bildschirm und iPad zeigen uns.
„Bildschirm und iPad zeigen uns“, so Frank Ostaseski, „was es heißt, ganz Mensch zu sein, dies gerade deshalb, weil wir unter den unvermeidlich reduzierten Bedingungen digitaler Kommunikation unsere ganze Menschlichkeit nicht leben können.“ Zum anderen wird klar, dass ganze Gesellschaften, wie die Psychologin Pauline Boss in ihrem aktuellen Buch „The Myth of Closure“ (2022) diagnostiziert, mit einer Fülle uneindeutiger, schwer quantifizierbarer Verluste konfrontiert sind, die diese Pandemie im Verbund mit den notwendigen Schutzmaßnahmen und den unvermeidlichen Reise- und Kontaktbeschränkungen verursacht hat.
Diese Verluste haben keinen Namen. Sie sind nicht leicht zu beschreiben. Sie tauchen in den offiziellen Defizit- und Schadens-Bilanzen der letzten drei Jahre nicht auf. Und es fehlt, zumal im öffentlichen Raum, eine Sprache, die sie jenseits von Gefühlskitsch, Sonntagspredigt und einer ideologisch engagierten Kritik der Pandemiemaßnahmen überhaupt entzifferbar und besprechbar machen könnte. Aber diese Verluste sind da, sie werden in privaten Gesprächen spürbar. Sie handeln von Verunsicherung, von Isolation und der plötzlichen Außerkraftsetzung von Gewohnheiten, von Ritualen und Traditionen. Und sie münden, eben aufgrund ihres schwerfasslichen Charakters, in eine zweite, eine vergessene Trauer, die bleibt, weil sich ein Abschied nicht nachholen lässt und es keinen neuen Versuch der Auflösung und Wiederbegegnung geben kann.
Und schließlich und drittens wird deutlich, dass es eine größere, wenn auch nicht exakt errechenbare Zahl von Menschen geben muss, die Freunde und Angehörige während der Pandemie verloren haben - ohne die Chance eines letzten Kontakts. Und die jetzt womöglich mit diesem Erlebnis eines nicht wirklich geglückten Abschieds ringen, ohne die Gewissheit des letzten Blicks, ohne die Möglichkeit, das Geschehen wirklich emotional und aus der unmittelbaren Erfahrung heraus für sich zu beglaubigen. Denn rein statistisch und von den Todeszahlen der an und mit Corona Verstorbenen her betrachtet ist eines sehr klar: Diese Menschen mit ihren ganz ureigenen Erfahrungen muss es geben. Aber ihre Geschichte wird nicht erzählt. Sie ist unsichtbar, bislang zumindest. Und sie droht in einer Welt der multiplen Krisen und Katastrophenszenarien - steigende Inflation, explodierende Gaspreise, die drohende Eskalation des Krieges in der Ukraine - auch weiterhin unsichtbar zu bleiben.
Es wäre jetzt im Duktus und in der Dramaturgie dieses kleinen Essays ganz leicht, mit ein paar Forderungen zu schließen, die vermeintlich sofortige Besserung verheißen. Das wäre das klassische Schema: erst das Problem, dann die Lösung; erst die Diagnose, dann die Therapie. Man könnte beispielsweise kollektive Rituale des Erinnerns fordern, eine öffentliche Debatte verlangen, die das Thema setzt, vielleicht eine politische Rede anmahnen, die für die Sichtbarmachung diffuser Schmerzerfahrungen plädiert.
Aber dies wäre zu einfach, zu schnell und würde die Komplexität und Kompliziertheit der Erfahrungen durch ein paar Ad-hoc-Einfälle verhöhnen - ganz so, als sei die Innenwelt des Psychischen ein Land für Optimierungsklempner, die mit einem einzigen Auftritt und ein paar geschickten rhetorischen Kniffen so ziemlich alles reparieren können. Vielleicht besteht der entscheidende Schritt also schlicht darin, anzuerkennen, dass es die uneindeutigen Verluste und die vergessene Trauer überhaupt gibt.
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