Heidelberg. Sie weiß, sagt die sympathische Frau etwas schüchtern ins Mikrofon, nicht so genau, was sie sagen solle. Sarah Nemtsov schickt ein warmes und leichtes Lächeln in die Welt und fügt dann hinzu: „Deswegen bin ich auch Komponistin geworden.“ Im Congress Center Heidelberg, wo sich sicherlich 1500 Menschen zum Philharmonischen Konzert unter Generalmusikdirektor Mino Marani versammelt haben, wird man da sofort zu dem Gedanken verleitet: Ja, endlich mal wieder jemand, der der Musik vertraut, der sich auf ihre Kraft an sich verlässt, auf ihre pure akustische Wirkung, der denkt, wenn ich mich nicht mit Musik ausdrücken kann und die Menschen mich nicht verstehen, dann habe ich den Beruf verfehlt.
Sarah Nemtsov
- Herkunft: Sarah Nemtsov, geboren am 28. Mai 1980 in Oldenburg, ist eine renommierte deutsche Komponistin, die für ihre innovativen und facettenreichen Werke in der zeitgenössischen Musik bekannt ist.
- Studium: Sie absolvierte ihre musikalische Ausbildung an der Hochschule für Musik und Theater Hannover sowie an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin.
- Werk: Nemtsovs beeindruckendes Repertoire umfasst Opern, Orchesterwerke und Kammermusik, darunter die bemerkenswerte Oper „Herzland“. Ihre Arbeiten wurden mit Auszeichnungen wie dem Deutschen Musikautorenpreis und dem Busoni-Kompositionspreis der Akademie der Künste Berlin gewürdigt. Nemtsovs Werke werden international aufgeführt, und sie gilt als eine bedeutende Persönlichkeit der modernen Musikszene.
- Lehrerin: Nemtsov ist seit 2022 Professorin für Komposition am Mozarteum in Salzburg.
Dies ist keine Rede gegen die Arbeit der Musikvermittlung. Aber: Man kann alles auch übertreiben. Und Nemtsovs „Tikkun“ braucht tatsächlich nicht unbedingt die Erklärungen des Programmhefts, sie braucht nicht unbedingt das, was Deutschlandfunk-Journalist Frank Kämpfer in seiner Laudatio auf Nemtsov lobt. Aber: Preisverleihungen ohne Laudatio sind nun mal ein No-Go, und so erhält Sarah Nemtsov hier nicht nur den 34. Heidelberger Künstlerinnenpreis, sondern, in Anwesenheit der Preisgründerin Roswitha Sperber, auch viel Lob.
Ekstatische Klänge zwischen Chaos und Ordnung
Zu Recht: „Tikkun“ für Streicher, Percussion und eine kleine Band bricht mehr und mehr über uns herein. Nach fragilen Klängen des Beginns, die sich zwischen klassischen Orchesterflächen und Nuancen der Popkultur nach und nach mehr mischen, attackieren vor allem eine E-Gitarre und das Drumset gegen Ende das Geschehen. Das Werk gerät, vor allem im Rückblick auf vereinzelte Aktionen davor mit dem sprachlosen Wischen und Stammeln der Streicher und des Keyboards, zum Hörort einer Art verzweifelten Ekstase. Das Narrativ: Es geht um die Reparatur der Welt durch das Einsammeln einzelner Funken.
Hilfreich sind solch semantische Hinweise allemal, obwohl: Auch die Uraufführung von Nemtsovs „Schatten zu“ (nach Rainer René Mueller) zu Beginn des Abends käme ebenso ohne das Wort aus. Ohnehin ist es ja in der zeitgenössischen Musik üblich, musikalisch alles zu tun, damit kein Wort zu verstehen ist. Warum eigentlich? Nemtsov lässt immerhin einzelne Wörter und Worte sprechen, da blitzt aus einer mehr oder weniger amorphen, eng liegenden und dissonant-clusterartigen Klangfläche etwa plötzlich ein „… es ist gezählt auf deinem Haupte …“ auf.
Begründung der Jury
Die Jury des Heidelberger Künstlerinnenpreises vergleicht Nemtsovs Werk mit einem Experimentierfeld: „In dieses führt die Komponistin Vorlieben wie Schlagwerk, Performance und Multimedia, das Spiel mit Objekten sowie die Neugier auf Instrumente aus Welten fern der Neuen Musik. Nicht zu vergessen die jüdische Denk- und Kulturtradition, mit der sie in Oldenburg aufwuchs und die jetzt in Berlin ihre Arbeit als starke Wurzel fundiert. Die künstlerischen Resultate sind eigensinnig, überzeugend, auf eigene Weise forsch-kräftig wie berührend fragil. […] Sarah Nemtsov provoziert Emotionen, zuweilen bringt sie autobiographische Momente in ihre Werke mit ein – mit beidem steht sie authentisch für Vielheit, für Teilhabe, für die Akzeptanz der und des Anderen.“
„Schatten zu“ für sechsstimmigen Chor ist, zumal in der solistischen Interpretation der formidablen Schola Heidelberg unter Walter Nußbaum, eine stimmliche Sensation. Die drei Damen und Herren, die das singen, schaffen einen unfassbar homogenen Klang, der in allen möglichen Farben schimmert. Fragil, zart, fragend und schier unmenschlich perfekt klingen die sechs Stimmen, der Klang ist immer ein Kontinuum entweder der drei Männer- oder der drei Frauenstimmen, die von vereinzelten Minimalereignissen tangiert werden. Es entsteht ein faszinierendes Gewebe, zum einen in sich verschlungen, zum anderen mit einer Art kristalliner Klarheit.
Dass der Abend mit Debussy und Weinbergs Fantasie für Cello und Orchester und dem exzellenten Solisten Johann Aparicio Bohórquez sogar noch annähernd Unterhaltungsmomente bereithält (Tango-Zugabe), macht das Philharmonische Konzert zur gelungenen Sache. Mehr davon!
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-regionale-kultur-sarah-nemtsov-erhaelt-den-heidelberger-kuenstlerinnenpreis-_arid,2283846.html