Neue Sachlichkeit

Karl Bertsch stellt in Mannheim aus: Die neue Sachlichkeit

Die Mannheimer Kunsthalle erinnert an den zu Unrecht vergessenen Künstler Karl Bertsch. Viele seiner oft gesellschaftskritischen Arbeiten sind erstaunlich aktuell.

Von 
Christel Heybrock
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Farblithografien der 1920er Jahre: Kuratorin Susanna Baumgartner erläutert Werke in der Mannheimer Ausstellung. © Manfred Rinderspacher

Mannheim. Das etwas düstere Plakat mit den grünen Schriftblöcken, das 1925 die „Neue Sachlichkeit“ ankündigte, ist wohl das einzige Werk von Karl Bertsch, das mittlerweile Eingang ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gefunden hat. Aber wer war der Mann? Was hat er sonst noch gemacht? Eine Menge, und man wundert sich, dass nicht früher an ihn erinnert wurde – eine 2021 von Kunsthistoriker Christmut Präger kuratierte Schau im Schloss Edingen-Neckarhausen blieb ohne weiter reichende Resonanz.

Die aktuelle Ausstellung in der Kunsthalle kam auch dadurch zustande, dass die Familie des Künstlers dem Haus inzwischen eine Schenkung von rund 200 Zeichnungen und Druckgrafiken übergab – private und Leihgaben aus dem Marchivum und dem Stuttgarter Wirtschaftsarchiv ergänzen den von Susanna Baumgartner kuratierten Rundumblick über ein zu Unrecht vergessenes Künstlerschaffen.

Karl Bertsch (1895-1974)

  • Vor 130 Jahren wurde der Grafikdesigner und Zeichner in Österreich geboren, am 24. August 2024 jährte sich sein 50. Todestag (in Heidelberg). Bertsch lebte seit 1923 in Mannheim. Die Kunsthalle erhielt aus dem Nachlass eine Schenkung von rund 200 Arbeiten, die, ergänzt mit Leihgaben, in der Grafikabteilung zu sehen sind. Es ist die zweite Einzelschau des Künstlers seit 1932 unter Gustav Hartlaub.
  • Kuratiert von Susanna Baumgartner, zeigt sich ein vielfältiges Lebenswerk von publikumswirksamen Plakaten und Gebrauchsgrafik bis hin zu bissig-zeitkritischen Karikaturen. Das bekannte Kunsthallen-Plakat zur Neuen Sachlichkeit dokumentiert einen Teilaspekt von Bertschs Gesamtwerk.
  • Eröffnung ist Donnerstag, 6. Februar, 19 Uhr, die Schau dauert bis 1. Juni, täglich außer Mo 10-18 Uhr, Mi 10-20 Uhr, am 1. Mi im Monat 10-22 Uhr.

Und das trifft in unsere Gegenwart mit einer wahrlich bestürzenden Aktualität. Ohne sich selbst jemals nach vorn zu drängen, stellte Bertsch die Geister seiner Zeit mit schonungslosem Blick und spitzem Stift zur Schau – und siehe da, es sind auch unsere Geister, sie sind einfach geblieben: Gier, hemmungslose Selbstgerechtigkeit, Rückwärtsdenken und Mitleidlosigkeit, alles wie heute, nur die Gesichter haben sich verändert, ein bisschen.

Zeichnungen sind heute noch entlarvend und zugespitzt

Bertsch war ein entlarvender Geist von Natur aus. Mit 19 bannte er die Lehrer seiner Stuttgarter Realschule mit wenigen Strichen so aufs Papier, dass wir sie als durchaus aktuell erkennen. In der Nazizeit sammelte er (das war lebensgefährlich!) Hitlerwitze und veröffentlichte die Sammlung nebst dazugehörenden Zeichnungen 1946 in Heidelberg. Einer der Witze ging so: Jemand ruft einen Herrn Müller an. „Ist da Müller?“- „Nein.“ –„Ist da Müller?“ – „Nein, hier ist Schmidt.“- „Oh, dann habe ich wohl falsch gewählt.“ – „Ach, das haben wir doch alle …“ Womöglich werden wir uns nach dem 23. Februar das auch sagen müssen …

Karl Bertsch: Kennen Sie Mannheim? 1929, Farblithografie. © Marchivum

Es ist schwer zu beurteilen, wo Bertsch seine Stärken hatte. In der Figurenzeichnung, den Gesichtern, der charakteristischen Gestik? Die Bleistiftzeichnung „Es lebe der alte Geist“ von 1920 mit jubelnden Monarchisten könnte von einem heutigen Parteitag stammen, auch wenn Reaktionäre mittlerweile kein gekröntes Haupt mehr brauchen. Waren Bertschs Stärken die Proportionen von Straßenzeilen, Mannheimer Hafenansichten oder, während der beiden Weltkriege, Schützengräben, Stolleneingänge, Bomben überm zerstörten Mannheim? Oder war es das umfangreiche Schaffen als Gebrauchsgrafiker in der Nachkriegszeit, als Bertschs Plakate für den Mannheimer Flughafen, das Nationaltheater, die Kunsthalle oder städtische Fasnachtstermine das Straßenbild geprägt haben müssen, ohne dass den Passanten wohl bewusst war, wer sie sich ausgedacht hatte?

Plakatdesigner mit Fantasie, einst präsent im Straßenbild

Schon Kunsthallendirektor Gustav Friedrich Hartlaub hatte Bertsch als Plakatdesigner geschätzt, ihm aber auch 1932 eine Einzelschau mit Zeichnungen und Aquarellen eingerichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem sein Wohnhaus zerstört worden war, wurde Bertsch zum gefragten Gebrauchsgrafiker mit Entwürfen für Zigarren und Roth-Händle-Zigaretten, für Medizinprodukte wie Thomapyrin, für Verpackungen, Banderolen und Firmenlogos. Dass sein witziges Poster für Vivil-Pfefferminzdragees vom Auftraggeber abgelehnt wurde, erstaunt heute, aber Bertsch scheint es nicht umgeworfen zu haben.

Karl Bertsch: Frischgeatmet frohgestimmt mit VIVIL, o.J., Gouache auf Karton. © Kathrin Schwab/KuMa

Fragt man nach seinen Schaffensimpulsen, seinen Erkenntnissen, seiner Orientierung mitten in den Bruchlinien während seiner Lebenszeit, dann ist es wohl eine Mischung aus Neugier und Distanz. Sein Schaffen ist geprägt aus Scharfblick, Präzision, Vitalität und dem Wissen um die Bodenlosigkeit menschlicher Existenz. Neue Sachlichkeit? Einige Blätter berühren die Grenze zwischen Albtraum und Karikatur: „Die Reaktion“ – da balanciert ein mit den Bällen „De-Mo-Kra-Tie“ jonglierender Akrobat auf dünnem Seil, das hinter ihm von Vertretern reaktionärer Gesinnung angesäbelt wird. Wann das Blatt entstand? Bertsch notierte kein Datum. Es ist von heute.

Freie Autorin MM Kulturredaktion 1974-2001, Fachgebiet Bildende Kunst

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