Nationaltheater - Mit Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ wagt sich das Kollektiv Kommando Himmelfahrt an ein deutsches Heiligtum – und liefert Diskussionsstoff

Wie im "Freischütz" am NTM das Gefühl über das Wissen triumphiert

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Schuss in den deutschen Wald (v.l.): Christopher Diffey (Max), Nikolas Büsen (Kinderstatist), Thomas Berau (Ottokar), Thomas Jesatko (Kuno), Opernchor. © Christian Kleiner

Mannheim. Was ist nur aus dem deutschen Wald geworden! Er, der manchen als eigentlicher Protagonist dieser Oper gilt, ist längst zu einem elenden Ort der Freudlosigkeit mutiert, die Wolfsschlucht, Traum wildester Teufelsfantasien, zum Wertstoffhof unserer Kultur. Herumliegende Bildschirme deuten auf eine Welt hin, die vor langer Zeit einmal technologisch und digital war, halb lebendige, halb tote Astronauten liegen unter halb lebendigen, halb toten Tannenbäumen.

Hier, in ein marodes Wasserwerk als Symbol für die Unbehaustheit des Menschen, auf diesen Friedhof der Zivilisation, unserer Zivilisation, hat sich die letzte Wissenschaftlerin der Erde zurückgezogen und arbeitet verzweifelt an der Aufklärung der Gläubigen. Melisa heißt Fausts Fachkollegin, und sie will mit der Wahrheit den Glauben an Gott, Tradition oder nur Behauptetes besiegen - und sei es die Herrschaft eines Herrenvolkes aus Fürsten und anderen sogenannten Adligen. Zweifeln, sagt Melisa gleich zu Beginn, sei der Anfang einer Suche nach Wahrheit. Vom Komponisten wurde Melisa nicht erfunden. Sie, ein Anagramm aus Samiel, hat das Regieteam als Sprechrolle da hinein gestickt. Ein intellektuelles Accessoire, das Astrid Meyerfeldt überzeugend ausfüllt.

Eine Kritik an der Aufklärung?

Nationaltheater Mannheim, 8. April 2022. Das soll also der lang ersehnte „Freischütz“ Carl Maria von Webers sein? War das nicht die deutscheste aller Opern? Hat Weber da nicht, ja, den Gegenentwurf zur Opernhegemonie der Italiener geliefert? Blenden wir mal die fantastisch-filmischen Bilder und das toll beleuchtete Weltuntergangsszenario (Nicole Berry) von Bühnenbildnerin Heike Vollmer aus: Ja! Der Ort ist anders, und das Künstlerkollektiv Kommando Himmelfahrt, das für diese dystopische Deutung verantwortlich zeichnet, hat die Story um Max und Agathe ganz schön gemixt; das Böse ist irgendwie das Gute und umgekehrt, außerdem lenkt am Schluss nicht eine Übermacht (Eremit) das Happy End ein, sondern das Gewissen von Max, der seinen finalen Gewehrschuss einfach direkt auf seinen teuflischen ergo hier aufklärerischen Verführer Kaspar abgibt. Doch Webers Schauerromantik ist präsent, die Themen, Gut und Böse, die Klassengesellschaft, das Gottvertrauen Agathes, Max’ Verzweiflung, der Glaube an Vorsehung oder Zufall - alles da.

Webers "Freischütz" am Nationaltheater Mannheim

  • Das Werk: „Der Freischütz“ ist eine romantische Oper in drei Aufzügen von Carl Maria von Weber (1786-1826). Das Libretto stammt vom Rechtsanwalt Friedrich Kind, der sich der romantischen Schriftstellerrunde Dresdner Liederkreis anschloss. Die Uraufführung war in Berlin 1821. Das Werk wurde von vielen als deutsch, gerade zu nationalistisch und als Erhebung gegen Napoleon gesehen. Zu ihnen gehörte auch Richard Wagner. Andere sahen sogar den deutschen Wald als eigentlichen Protagonisten des Werks. Es gibt aber auch Hinweise, dass Webers Komposition als kosmopolitisch gedeutet werden kann.
  • Die Handlung: Der Jägerbursche Max muss beim Probeschuss treffen, um die Tochter des Erbförsters, Agathe, heiraten und die Försterei erben zu können. Unter dem negativen Einfluss des teuflischen Samiel schießt er bei den Vorbereitungen aber immer daneben. Deshalb lässt er sich darauf ein, sich sogenannte Freikugeln zu gießen, Kugeln, die immer treffen. Die letzte der sieben Kugeln aber will Samiel auf die Braut Agathe lenken, was der göttliche Eremit verhindert.
  • Termine: 10./17. April, 8./15. Mai und 6. Juni.
  • Info/Karten: 0621/1680 150.

So siegt hier am Ende aber eben doch nicht die durch Wissenschaft und Forschung ergründete Wahrheit, sondern das Gefühl und der Glaube, im entscheidenden Moment intuitiv das Richtige zu tun. Es beschäftigt Jan Dvorák, Julia Warnemünde und Thomas Fiedler (wie die Einzelteile des Himmelfahrtskommandos heißen) immer wieder die Aufklärung. Und dieser „Freischütz“ lässt sich als Kritik an ihr lesen, zeigt er doch, dass kalte Wissenschaft über Leichen geht (der Mensch mit Gefühlen und Affekten freilich auch) und all diesen Schrott produziert hat. Plakativ ist die Aussage nicht. Sie wird vielschichtig dadurch, dass auch erzählt wird, wie der Mensch ohne Forschererkenntnis wieder in voraufklärerische Zeiten zurückfällt.

Kommando Himmelfahrt zeigen das schon allein durch die Kleidermode (Kathi Maurer), die uns in die dunklen Firnisschichten von Rembrandts „Nachtwache“ entführt. Uniformierte präsentieren sich mit Mühlsteinkragen, Schärpen und prunkvollen Umhängen. Und dann herrscht hier das Diktat einer Mischreligion mit von Händen geformten Pyramiden als Symbol für das Auge der Vorsehung (mit leicht islamischem Touch ziehen die Frauen immer wieder ihren Schleier über die Gesichter). All das ist gut, funktioniert aber nicht zu 100 Prozent. Bisweilen wirkt das Spiel auf der mit Kulissen vollgepackten Bühne sogar etwas ungelenk, bleibt für Aktion, Personenführung, Freiheit der Protagonisten und vor allem des Chors kaum Raum.

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Das Publikum im (hoffentlich coronabedingt) nicht ganz gefüllten Opernhaus applaudiert am Ende sehr herzlich. Feiern ist anders. Dazu stellen Kommando Himmelfahrt auch zu viele Fragen. Und dann überzeugt der Abend unter der Leitung von Roberto Rizzi Brignoli auch musikalisch nicht ganz. Es braucht Zeit, bis der Maestro die heikle Partitur mit Chor (Dani Juris) und Orchester in den Griff kriegt. Zu viele Patzer. Zu viele Intonationsschwächen gleich in der Ouvertüre. Zu oft auch fehlende Präzision in der Koordination von Bühne und Graben - nicht nur beim Jägerchor. Auch Webers Kunst des subtilen Übergangs zwischen den Sphären, die dieses musikalische Psychogramm von Wissen und Glauben ausmacht, wirkt etwas grob. Die Zwischenschichten fehlen etwas.

Solistisch ist das Niveau gut. Heraus ragt Seunghee Kho (Ännchen), die so geschmeidig phrasiert wie edel klingt. Christopher Diffey als Max erfüllt nach starken Darbietungen zuletzt nicht ganz die Erwartungen. Besonders in den tieferen Tenorregionen bleibt er etwas blass, und in der Höhe der „Wälder und Auen“ fehlt ihm jugendliches Heldenmetall. Hingegen gibt Kammersänger Thomas Jesatko wieder einen guten, fast ironisch gefärbten Erbförster Kuno, Thomas Berau überzeugt als Fürst Ottokar mit Glanz und Gloria, und Bartosz Urbanowicz liefert als Kaspar sein Meisterstück ab. Seine Stimme sitzt, strahlt und ist mittlerweile sehr wandlungsfähig. An der Agathe von Viktorija Kaminskaite gibt es kaum etwas auszusetzen. Kaminskaite führt ihre Stimme gerade in der zentralen (Gebets)-Szene („Wie nahe mir der Schlummer“) sehr kultiviert bis zum h’’ hinauf und überrascht mit Pianissimo-Stellen und Messa di Voce. Es bleibt am Ende aber ein Hauch Direktheit im Timbre. Sehr gut singen auch Marcel Brunner (Eremit, Kilian) und die vier Brautjungfern (Rebecca Blanz, Katharina Hermanns, Tizia Hilber Maria Polanska).

Romantische Oper

Insgesamt geht der Abend anregend über die Bühne. Die verbleibenden Computer dieser postdigitalen Bühnenzivilisation, auch Gehirne genannt, berechnen weiter unentwegt die vielen Anspielungen und Aussagen dieses Abends. So darf, so muss man aus dem Theater rausgehen.

Das Werk: „Der Freischütz“ ist eine romantische Oper in drei Aufzügen von Carl Maria von Weber (1786-1826). Das Libretto stammt vom Rechtsanwalt Friedrich Kind, der sich der romantischen Schriftstellerrunde Dresdner Liederkreis anschloss. Die Uraufführung war in Berlin 1821. Das Werk wurde von vielen als deutsch, gerade zu nationalistisch und als Erhebung gegen Napoleon gesehen. Zu ihnen gehörte auch Richard Wagner. Andere sahen sogar den deutschen Wald als eigentlichen Protagonisten des Werks. Es gibt aber auch Hinweise, dass Webers Komposition als kosmopolitisch gedeutet werden kann.

Die Handlung: Der Jägerbursche Max muss beim Probeschuss treffen, um die Tochter des Erbförsters, Agathe, heiraten und die Försterei erben zu können. Unter dem negativen Einfluss des teuflischen Samiel schießt er bei den Vorbereitungen aber immer daneben. Deshalb lässt er sich darauf ein, sich sogenannte Freikugeln zu gießen, Kugeln, die immer treffen. Die letzte der sieben Kugeln aber will Samiel auf die Braut Agathe lenken, was der göttliche Eremit verhindert.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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