Mannheim. Selbst die Hunde in den Straßen von Berlin bellten „Wir winden dir den Jungfernkranz“, schrieb damals Heinrich Heine. Der Erfolg der ohrwurmprallen „Freischütz“-Uraufführung 1821 ließ sich kaum noch toppen, und bis heute hat die Oper nichts von ihrer Popularität verloren. Alle glauben dieses Stück zu kennen. Thomas Fiedler und Jan Dvorák kennen es gewiss. Sie sind gewissermaßen diplomierte „Freischütz“-Regisseure, die bereits zu ihrem Studienabschluss Webers Meisterwerk in Szene setzten. Mit der feschen, forschen Unbesorgtheit junger Männer bogen sie die originale Partitur für sich zurecht, brachen sie auf. Inzwischen sind sie, auch wenn sich ihr Kollektiv noch immer als „Kommando Himmelfahrt“ bezeichnet, künstlerisch gereifte Männer.
Thomas Fiedler sagt denn auch in Mannheim, wo es eine neuen „Freischütz“ geben wird, dass er mit Inszenierungen, die hauptsächlich auf Parodie und Ironie abzielten, wenig anzufangen wisse. Dass „Regietheater“ ohnehin etwas von gestern sei. Dass die Figuren und ihre Konflikte ernstgenommen werden müssten - „das Romantische“ an dieser Oper selbstverständlich auch. Dass alles „aus dem Geist des Werks heraus“ entwickelt werden solle. Aber einen nicht ganz kleinen Eingriff nimmt sich das „Kommando Himmelfahrt“ denn doch heraus, und deswegen sitzt neben Fiedler im Foyer des Nationaltheaters auch Schauspielerin Astrid Meyerfeldt. Für sie ist eigens (überwiegend von Jan Dvorák) eine neue Sprechrolle geschrieben worden.
Meyerfeldt spielt eine Wissenschaftlerin, die in der Wolfsschlucht haust, dem dunkelsten und merkwürdigsten „Freischütz“-Schauplatz. Dorthin hat sie sich zurückgezogen, hält mit Mummenschanz und Budenzauber ihre leichtgläubigen Mitmenschen auf Abstand. Warum tut sie das? Weil diese Welt wieder einmal in Trümmern liegt, der Fortschritt eine Auszeit nimmt. Die Regisseure inszenieren eine Dystopie, wobei die Zukunft freilich nicht Computer-überwacht und sonstwie technoid daherkommt, sondern in die regressive Phase eintritt. Derlei habe es auch schon in der Vergangenheit gegeben, äußert Thomas Fiedler. Und erinnert an das frühe Mittelalter, als an alten römischen Monumentalbauten schäbige Hütten lehnten. Auch das Straßennetz war kaum noch in Betrieb. Während die Römer, etwa in Pompeji, bereits Zebrastreifen ausgewiesen hatten.
Kann die Regression wirklich zurückkommen? Politisch ist das ohne Frage denkbar, Thomas Fiedler nennt Corona und die „Querdenker“, den Sturm aufs Capitol in Washington, den leider mehr als aktuellen Ukraine-Krieg. Er nennt die Colonia Dignidad in Chile und die Amish People in den USA und Kanada – die sich darüber stritten, ob an alten Pferdekutschen wirklich halbmoderne Reflektoren hängen dürfen. Es war immer schon verlockend, auf die Zumutungen der Moderne mit dem Rückzug ins Private, (Pseudo-) Religiöse und vermeintlich Unverdorbene zu reagieren.
Astrid Meyerfeldt, „Kommando Himmelfahrt“ und „Freischütz“:
Astrid Meyerfeldt, geboren 1960, stammt aus Rostock. Regisseur Frank Castorf engagierte sie an die Berliner Volksbühne, wo sie auch in den Inszenierungen von Christoph Schlingensief, Leander Haußmann oder René Pollesch mitwirkte. Für ihren Kölner Auftritt in Eugene O’Neills Stück „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ (Regie: Luk Perceval) ist ihr 2020 der Theaterpreis „Der Faust“ verliehen worden. Meyerfeldt hat überdies die deutsche Fernsehkrimi-Landschaft kultiviert, von „Mord mit Aussicht“ bis zu „Notruf Hafenkante“ übernahm sie Gastrollen.
„Kommando Himmelfahrt“ ist ein von Thomas Fiedler und Jan Dvorák etabliertes, genreübergreifend tätiges Theaterkollektiv, das Oper und Konzert mit Video-Einspielungen und Performance-Elementen zu verbinden sucht. 2008 gegründet, stieß 2013 auch die Dramaturgin Julia Warnemünde zum „Kommando“.
„Freischütz“-Aufführungen: 8. April (Premiere), 10., 17. April, 8. Mai, jeweils um 19 Uhr im Opernhaus des Nationaltheaters.
Die Epoche der Romantik sei ja auch schon ein Protest oder zumindest „eine Reaktion auf eine durcherklärte Welt“, wie Fiedler sagt. Sie hatte sozusagen Angst vor den Naturgesetzen und bediente eine Sehnsucht nach dem Mysteriösen und Verzauberten. Vielleicht gibt es solche Tendenzen heute wieder. Die von Astrid Meyerfeldt gespielte Wissenschaftlerin, die anders als die anderen den Umgang mit der Elektrizität beherrscht, wird an den Rand gedrängt. Sie stehe für Vernunft und auch Materialismus, findet Meyerfeldt. Sie wolle anfangs nur sich selbst retten – aber zu guter Letzt vielleicht die ganze Welt.
Natürlich werden die Details der neuen Inszenierung wie ein mittelgroßes Staatsgeheimnis präsentiert. Oder verschwiegen. Aber soviel darf „gespoilert“, also schon im Vorhinein verraten werden: Ein zerstörtes Wasserwerk ist wesentlicher Teil des Bühnenbilds (von Heike Vollmer). Und es gibt auch Blitz und Donner, echten Qualm und nachgebauten deutschen Wald. „Die Werkstätten haben sich übertroffen“, lobt der Regisseur. Eine Art Retrofuturismus werde man im Nationaltheater sehen.
Astrid Meyerfeldt tritt erstmals hier in Mannheim auf. Und arbeitet auch erstmals mit dem Kollektiv „Kommando Himmelfahrt“ zusammen. Ihre Vorfreude scheint groß zu sein. Sie liebe Oper, diese starken, opulenten Stimmen, alles sei noch eine Nummer größer als im Sprechtheater. Auch sie selbst müsse dann noch ein bisschen mehr hineinlegen und „nicht bloß bis zur letzten Reihe senden“. Sondern lieber ein paar Reihen weiter.
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