Der Ozean mit allerlei Getier ist in den Mannheimer Rosengarten verlegt worden. Es rauscht und windet, es glitzert und gleißt, es donnert und wuchtet. Mittendrin: „Die Seejungfrau“, dieses kleine, arme und vergeblich liebende Geschöpf menschlicher (Männer)-Fantasie. Alexander Zemlinsky hat diese fantastische Musik geschrieben. Es war 1905. Und so, wie das Orchester des Nationaltheater Mannheim (NTO) sich hier präsentiert, bühnenbreit mit allem, was streichen, blasen, zupfen und schlagen kann, werden wir zum berauschten Besucher eines breitwandig ausformulierten Filmscores, dessen Bilder wie von Zauberwellen gesteuert in unseren Köpfen das Laufen lernen.
Hoffnung und Enttäuschung
Programmmusik at it’s best, im Ernst: Selten schüttete sich die Klang-Ekstase aus diesem Orchester so plastisch über unsere Ohren aus, und das, obwohl ein Maestro am Pult steht, der vor allem auch fürs Zeitgenössische steht: Ingo Metzmacher. Unter seinem taktstocklosen und expressiven Dirigat gelingt dem NTO aber nicht nur die Klangfarbenexplosion des Instrumentationsgenies Zemlinsky. Es sind, was sich anfangs des Konzerts schon mit dem Vorspiel zu Humperdincks „Hänsel und Gretel“ andeutete, vor allem die vielen Zwischenwelten in der Musik, Klänge, die nicht mehr etwas und noch nicht etwas Anderes sind, die Nuancen zwischen Meeresoberfläche und -boden, zwischen Hoffnung und Enttäuschung.
Dazu gehört auch der Mut, Diffuses einfach diffus sein zu lassen. So schälen sich etwa gleich zu Beginn dieser märchenhaften Musik nach Hans Christian Andersen Minimalmotive aus dem dunkel grummelnden E-A-Klang von Bass, Cello, Tuba, Posaune und Fagott heraus. Die skalenartigen Harfentupfer darin klingen wie unheilvolle Vorboten gefährlicher Seeungeheuer. Eine geisterhafte Stimmung, die sich durch matt schimmernde hohe Streicher verstärkt und erst etwas aufhellt, wenn die Holzbläser ihre absteigenden Girlanden ziehen. Darin erscheint irgendwann die Solovioline Vitali Nedins - zerbrechlich, romantisch, einsam und beseelt.
Dass das 45 Minuten dauernde Stück sinfonischer Dichtung mithin so unter die Haut geht, liegt aber freilich auch am Stück selbst, das mindestens mit einem Bein noch im 19. Jahrhundert steht und mit dem französischen Impressionismus, der Wasser noch mal flirrender und fließender beschrieben hat, noch wenig zu tun hat (man denke nur an Debussys „La Mer“ 1905 oder Ravels „Ondine“ 1908). Dennoch ist „Die Seejungfrau“ ein Musterexemplar von Farbe, Parfüm und Bewegung, die mit der kompositorischen Struktur, mit Tonsatz und harmonischer Führung die perfekte Ehe eingehen.
Neotonales Konzert
Da ist Hindemiths Bratschenkonzert „Der Schwanendreher“ ein krasser Gegenpol. Im Programmheft wird zwar Glenn Goulds Zitat von der „perfekten Mischung aus Ekstase und Vernunft“ zitiert. Das mag für den kristallinen Vernunftmenschen Gould zutreffen. Neben Zemlinksy bleibt die Ekstase jedenfalls eher mal im Homeoffice - was freilich die Musik nicht schmälert. Natürlich lebt das Stück Kammermusik vor allem von der gut gemachten Struktur, die teils fast barock, kleinteilig und polyphon daherkommt, dann wieder als neotonales und -klassizistisches Konzert, das die - dem Werk zugrundeliegenden - musikantischen Weisen und Volkslieder eher plakativ in den leider schlecht besuchten Mozartsaal bläst.
Ein imposantes Werk ist das dennoch, und wie der Bratschist Amihai Grosz das spielt, expressiv, dynamisch, stets körperlich und virtuos artikulierend, bekommen die drei Sätze eine vitale Note, in der die Tutti und solistischen Passagen wie im klassischen Konzert streitend konkurrieren. Grosz zugegebenes Prélude aus Bachs Cello-Suite G-Dur (BWV 1007) auf der (eine Oktave höher agierenden) Bratsche überzeugt da etwas weniger. Etwas weich lässt er es fließen, wischt nach den Basstönen flüchtige Arpeggien über die Saiten, die Artikulation geht in dem großen Saal etwas verloren, was unter dem Strich lediglich heißt: Das klingt immer noch gut, könnte aber plastischer und strukturstärker sein.
Ein mitreißendes Konzert voller märchenhafter Programmatik. Dass es bei den Besucherinnen - also bei denen, die im halb besetzten Mozartsaal nicht da waren - nicht gezündet hat, liegt an der Häufung der unmagnetischen Namen Humperdinck-Hindemith-Zemlinsky. So haben leider viele verpasst, wie der Ozean samt allerlei Getier in den Rosengarten verlegt worden ist.
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