Klassik

Das Nationaltheater auf einem Trip ans Ende der Menschheit

Die Uraufführung von Christian Josts groß besetztem „Requiem Æternam“ durch das Nationaltheaterorchester unter chefdirigent Alexander Soddy hinterlässt Spuren - auch in Johannes Brahms’ "Ein deutsches Requiem", in dem der Mannheimer Opernchor zu Höchstform aufläuft.

Von 
Stefan M. Dettlinger
Lesedauer: 
Trauer um die Menschheit: Sopranistin Astrid Kessler, Chefdirigent Alexander Soddy und das Nationaltheaterorchester bei Josts Requiem Æternam. © Rinderspacher

Er ist in diesen Zeiten der wohl am meisten gefürchtete Gast in unseren Köpfen: der Gedanke an den Untergang, ans Ende der Menschheit und der Zeit, denn wer würde Sekunden, Monate oder Lichtjahre noch zählen, wenn der Mensch gestorben ist! Auch davon handelt Christian Josts Requiem Æternam, was übersetzt nichts anderes heißt als: ewige Ruhe, Ruhe, die wohl erst einkehrt, wenn der wissende Mensch weg ist.

Vorerst ist er aber noch da, findet in der Erde rund ums Nationaltheater Mannheim am späten Montagnachmittag in Form von Panzergranaten die lärmenden Absurditäten seiner Werke, suhlt sich im Ärger von Staus, Müll und Hass und sehnt sich nach unendlicher Klarheit. Jost, dessen Requiem Æternam nun vom Orchester des Nationaltheaters (NTO) unter Chefdirigent Alexander Soddy uraufgeführt wurde, kann uns eine Ahnung davon schenken. Inmitten von schweren tektonischen Klangbewegungen, von pumpenden Streichern, von schrillenden Flöten und dröhnendem Blech, hält er plötzlich ein. Stille. Atmen. Luft holen. Das Ende?

Ein Schimmer der Hoffnung

Nein! Denn dann singt Astrid Kessler diesen Öko-Satz: „Alles lebt vom Raub“. Damit begibt sich die immer dramatischer singende NTM-Sopranistin im vollen Mozartsaal in eine wellenartig steigende Flut menschlichen Selbsthasses und steigert sich in eine Verzweiflung, die Jost, geboren 1963, mit einer expressiven und emotionalen Klangsprache verstärkt, die sich an Komplexität steigert, sich aber irgendwann resigniert auf einen leisen Streichersatz zurückzieht. Fast wie Mahler klingt das dann. Weltschmerz in erweiterter Tonalität, in Vier-, Fünf- und Mehrklängen, eine entrückte Musik, die von klarem, düsterem fis-Moll in den Bässen aus in einem schwachen Schimmer das blendende Licht der Hoffnung sieht.

Unfassbar altmodisch (und schön) klingt Josts Trauer dann, nach einer Zeitreise um 130 Jahre zurück in ein Fin-de-siècle-Feeling, von dem wir heute nur träumen können. Kompositorisch könnte man das – fern des Textes – so interpretieren: Sind der Mensch und der menschliche Makel endlich überwunden, treten die Gesetze der Natur wieder in den Vordergrund. Spannungsfelder von Dissonanz und Konsonanz, von sich auflösenden Sekunden und Septimen.

Jost, die Uraufführungen und Ehrenmitglied Soddy

  • Christian Jost: Der 1963 geborene Jost stammt aus Trier, studierte in Köln und San Francisco Komposition und lebt in Berlin. Jost war Förderpreisträger der Siemens-Stiftung und hat Kammermusik und für Orchester sowie Solokonzerte geschrieben. Fürs Musiktheater gibt es bereits sieben Werke.
  • Die Uraufführungen: Mit den fast jährlich an Komponistinnen und Komponisten vergebenen Kompositionsaufträgen schließt das NTO an seine Wurzeln von vor 244 Jahren an, als fast nur Uraufführungen gespielt wurden. Der Auftrag an Jost ist von Familie Limbourg und der Harald-Genzmer-Stiftung gefördert.
  • Ehrenmitglied Soddy: Im Vorfeld wurde Chefdirigent Alexander Soddy zum Ehrenmitglied des Wagner-Verbandes ernannt.
  • 3. Akademiekonzert: 19./20.12. Humperdinck, Hindemith, Zemlinsky. Grosz/Metzmacher.

Wirkungsvoll, wenn nicht gar wirkungsmächtig ist es, was da in den letzten fünf Minuten passiert. Eine Stimmung wie in Wagners „Treibhaus“, und wie Soddy das mit dem NTO umsetzt, minuziös, akribisch, ist schon sehr gut. Die Klänge sind scharf akzentuiert, dynamisch, auf den Punkt und immer wieder in weiten Linien auch horizontal verschwimmend. Dass es aber auch im „Sternbild der Hoffnung“, wie es im Text heißt, nicht so unbedarft und paradiesisch zugeht, weiß auch Jost, reichert alles dann doch noch mit allerlei tönendem „Weltraummüll“ an. Blitzende Bläser. Asteroiden. Schwarze Löcher. Doch auch das bricht abrupt ab und mündet in einen clusterartigen Achtklang. Nur noch eine Ahnung des Schreckens.

Zwischen Avantgarde und Altmode

Baff ist man nach diesem Trip zwischen Neuer Einfachheit und „Atmosphères“ à la „Odyssee im Weltall“ allemal. Das Auftragswerk des NTO wandert gekonnt auf dem Grat zwischen Avantgarde und Altmode und trifft den Nerv des Akademiepublikums – zeitgenössische Musik, für jede und jeden fassbar.

Dass das mit Brahms’ großem Deutschem Requiem ebenso läuft – klar. Brahms ist der große gemeinsame Nenner im Repertoire, und so gerät das Werk aus den 1860er Jahren mit Orchester, Opernchor, Astrid Kessler und Baritonstar Johannes Martin Kränzle zum überwältigenden Ereignis. Der geerdete, dunkle Romantiksound des NTO, der homogene und der brillante, dynamische Klang des Opernchores von Dani Juris verbinden sich zu heftiger Intensität. Bisweilen ist das Orchester fast zu dominant, versteht man vom Text, den Brahms ja extra auf Deutsch vertont hat, wenig – was schade ist, weil es um ihn im Zentrum freilich geht.

Musikalisch sind das ganz klar großartige 75 Minuten. Kränzles obertonreicher Bariton glänzt im „Herr, lehre doch mich“, Kesslers „Ihr habt nun Traurigkeit“ erhält die nötige Nuance körperlicher Tiefe, Wärme, und Höhepunkt (eine Schwäche des Werkes?) ist kurz vor Schluss die C-Dur-Fuge des 6. Satzes „Herr, du bist würdig zu nehmen Preis und Ehre und Kraft“. Die Exaktheit, Schärfe und Überzeugungskraft, mit der hier nacheinander Alt, Sopran, Bass und Tenor einsetzen, überwältigt und fächert einen ganzen Kosmos an Kräften, Tektonik und Expressionen auf, der im feierlichen „Selig sind die Toten“-Finale nur abfallen kann.

Enden tut das ja mit der Offenbarung: „Der Geist spricht.“ Da könnte Jost mitreden und fragen: Wenn nun die Menschen, Makel und Körper weg sind, bleibt dann der Geist, oder folgt er ihnen nach wie ihre Werke? In den Himmel. Oder den Untergang.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen