Premiere

Nationaltheater Mannheim: Wie eine Frau Nietzsches verlorenen Gott findet

Hans-Peter Jahn beschert dem Mannheimer Publikum einen kleinen, feinen Abend mit Helmut Lachenmann und dessen „Got lost“, der leider auch schon wieder vorbei ist

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Sängerisch auf der Höhe: Yuko Kakuta in Jahns „Got lost“. © Maximilian Borchardt

Nach 72 Minuten ist Schluss mit lustig. Während die total besoffene Professorin für absurde Thesen ihre letzten Kaskaden über den Mensch-Gott und den Gott-Gott, über Nietzsche und die ganze Welt austräufeln lässt und im Vollrausch und purpurnen Pyjama sich selbst und der Welt abhanden kommt, betreten Yuko Sukuta und Yukiko Sugawara die Bühne und verbeugen sich. Sie waren schon vorher da. Immer wieder. Sie haben ein Werk des Stuttgarter Komponisten Helmut Lachenmann geprobt und die Musik nicht nur als existenzielle Erfahrung erfahren, sondern dabei auch das Mensch-Sein als Niederung, Rechthaberei und ekelhafte Ich-Sucht, mündend in Streit.

Nun aber werden sie „Got Lost“ aufführen, ein Werk, das Lachenmann 2007/08 für Sopran und Klavier geschrieben und das seinen Text von Friedrich Nietzsche und Fernando Pessoa übernommen hat. Natürlich sind für den Hörer von Nietzsche und Pessoa nur Schnitzel zu hören. Natürlich hat Lachenmann die Sprache bis zur Auflösung in Vokale und Konsonanten unkenntlich gemacht. Und natürlich ist, was entsteht, in höchstem Maße die Abstraktionsabteilung der Avantgarde ergo: exklusive Kunst für eine Minimalgesellschaft.

Hans-Peter Jahn, der Macher dieser immer wieder auch vergnüglichen 100 Minuten im Nationaltheater-Werkhaus, hat ja vielleicht deshalb dem Werk eine ironische Zwischenebene verpasst, die dazu führt, dass wenigstens einiges von Lachenmann, Nietzsche und Pessoa wirklich verständlich wird, zum andern aber auch etwas entsteht, was Lachenmann eigentlich immer versucht hat zu vermeiden: Musiktheater.

Lustspiel mit Absurditätsfaktor

Ist das die Zukunft zeitgenössischer Musik, einer Musik die - unter dem Brennglas betrachtet - so faszinierend, erfrischend und aufweckend ist wie die Neue-Musik-Szene (fast) ohne Öffentlichkeit und also Relevanz, eine Szene, die sich (mit Geld der Öffentlichkeit) selbst erhält? Der Gedanke ist charmant. Denn wie viele Werke (die es verdient hätten) erreichen ihr Publikum nicht, weil es mehr braucht als die einmalige frontale Beschallung durch ein Konzert! Jahn, selbst Komponist und Lachenmann-Freund, versucht, aus der Begegnung der trinkenden und denkenden Professorin mit den Klängen, der in einem Berliner Nebenzimmer übenden Musikerinnen eine Versuchsanordnung zu machen, in der sich innerer Monolog mit Handlung und Lachenmann’scher Musik zum Drama und Lustspiel verweben, das mitunter an die spielerische Absurdität Mauricio Kagels erinnert.

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Und nicht ganz gelingt. Begegnungen, einen Konflikt, eine Durchdringung der beiden Welten, die durch eine imaginäre Wand getrennt sind, gibt es nur einmal. Die Lage bleibt dualistisch, wird nie dialektisch - allenfalls am Ende, wenn nach der Voll-Version von „Got lost“ Susana Fernandes Genebra als Professorin nach etwas Imaginärem in der Luft greift - vielleicht nach den Sternen? Nach Liebe? Oder eben Gott, was bedeuten würde: Gott ist mitnichten lost, was ein ironisches Spiel mit dem Titel „Got(t) lost“ ist.

Der Abend, der (Gott weiß warum) nur zweimal stattfand, hätte mehr verdient - zumal in Zeiten, in denen das Spielhaus zu ist. Denn Schauspielerin Genebra, Sopranistin Kakuta und Pianistin Sugawara (Frau von Lachenmann) sind großartig. Und „Got lost“ pur am Ende sind 30 Minuten intensives Erleben von Klang und Sprache, ihrer Dekonstruktion und Zeit - eine erfahrbare Tiefe, die in Sprachlosigkeit genauso mündet wie eine ethisch-künstlerische Grundüberzeugung. Dieser Abend müsste wenigstens zehnmal gespielt werden!

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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