Mannheim. Der Traum einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft wird dieser Tage in Mannheim-Neckarau beerdigt. Zwar singen die armen, ausgemergelten Burschen dort, die von weit hergereist kamen und sich apathisch über die Bühne der Schildkrötfabrik schleppen, sie trügen den Hunger zu Grabe – und die dabei hüpfende, fast tänzerische Bassfigur lässt den finsteren Trauermarsch fast so zwielichtig erscheinen wie den kaputten „Streichholzhändler“ von Otto Dix, an dessen Beinstümpfe gerade ein Dackel pinkelt, während feine Herrschaften den Kriegsverstümmelten fliehen. Doch eigentlich – man muss nicht sonderlich klug sein, um das darin zu sehen – wird hier der Traum einer gerechten Gesellschaft begraben, in dessen Folge ein neuer (Gift)-Traum geboren wird: der Nationalsozialismus.
Calixto Bieito, der diesen Abend namens „Der Silbersee“ auf die Bühne geworfen hat, schließt diese von Kurt Weill und Georg Kaiser angelegte Klammer klug und dezent: Im Finale dieses unter dem Strich 180-minütigen Abends findet eine Polizistenvermehrung statt, die die Unliebsamen ausgrenzt, vertreibt, quasi deportiert: auf den Silbersee.
Für alle Schichten zugänglich
Es ist ein kleines Augenzwinkern von Bieito, dass er dabei am Ende – von schweren Rauchschwaden umwoben – die hohen Industrietüren des Fabrikgebäudes öffnen und ein weißes Taxi (ein Verweis auf Wagners Lohengrin-Schwan?) vorfahren lässt. Olim, Severin und Fennimore steigen ein. Wohin fahren sie? Klar: ins Exil, wie alle, die 1933 bemerkt haben, dass (siehe oben) in Deutschland erst mal Schluss ist mit lustig, mit Liberté, Egalité, Fraternité. Bieito vertraut damit nicht dem wundersamen Zufrieren eines blinkenden Sees mitten im Frühling, auf dem die Drei dem „Aufbruch der Helligkeit“ entgegengehen. Er sieht da eine Metapher. Bloß weg von hier! Der Silbersee ist kein realer, er ist ein Sehnsuchtsort.
Ein toller, ein grandioser Abend, mit dem so vieles unterstrichen wird: Kurt Weill war ein echter Könner. Sein idiomatisches Stilmittel zwischen Kontrapunkt, Komplexität und prall-populärer Plakativität lassen eine große theatrale Wucht entstehen, die für alle Schichten der Gesellschaft gleichermaßen zugänglich bleibt; man muss ernsthaft bedauern, dass Komponisten heute selten auch nur annähernd Ähnliches im Sinne haben. Und dann ist da natürlich Bieito, der einstige Skandalregisseur, was schon immer eine feindselige Reduktion seiner Fähigkeiten war.
Schnelles Geschehen auf einer Art Laufsteg
Er nimmt Weills Amalgam aus Theater, Musical, Tanz, Revue, Oper und Singspiel in seiner Buntheit ernst und kreiert ein schnelles Geschehen auf einer Art Riesenlaufsteg (Anna-Sofia Kirsch), an dessen Längsseiten das Publikum sitzt – vom Lotterieverkäufer (Niklas Mayer) ins Geschehen einbezogen, ein toller Typ zwischen John Lennon, Tom Petty und Johnny Depp. Der Ort ist also eindeutig – wie in Brechts epischem Theater – die Bühne allein, und dort konzentriert Bieito sich auf die psychologische Zeichnung der Protagonisten, die in an die 1930er Jahre angelehnten Kleidern (Paula Klein) agieren.
Olim, in Person Patrick Zielkes quasi optimal besetzt, mutiert da vom strammen Polizisten über den plötzlich zu Reichtum gekommenen Dandy hin zum sympathisch-empathischen Menschen und Freund mit Seele. Er trifft alle Nuancen zwischen operalem Brustton und „normaler“ Sprechstimme, zwischen ernst und humorvoll und wird von Marcel Brunner als Co-Polizisten kernig und überzeugend verstärkt. An Olims Seite agiert aber vor allem er: Christopher Diffey als leidender aufopferungsvoller Severin, der tenoral mittlerweile alle Facetten des Charakterfachs bedient. Toll. Er verkörpert zudem sehr gelungen den Typus junger arbeitsloser Mann mit dem Herz am rechten Fleck. Eigentlich. Denn er sucht auch nach Rache.
In die 1930er hineingezogen
Bisweilen fühlt man sich hier wie in einem historischen Film. So viel 1930er sind präsent. Großartig ist, was früher keine Selbstverständlichkeit war: dass die Sänger (alle mit Nackenbügelmikros ausgestattet) auch sehr gut sprechen. Am überraschendsten ist das vielleicht bei Stargast Mirella Hagen, die man zuletzt etwa als Woglinde im Bayreuther „Ring“ erleben konnte.
Ihre Fennimore keift, intrigiert, lallt lüstern und leidet formidabel. Und natürlich lässt sie ihren Sopran auch edel aufleuchten, wenn sie „Rom hieß eine Stadt“ singt oder im Psycho-Duett mit Uwe Eikötter als psychopathisch-gefährlichem Baron Laur aufblüht, der auch die arme Fennimore mit ins Verderben reißen will.
Überwältigend ist dieser Abend, weil er einen eben nicht (emotional) überwältigt, sondern das Hirn anknipst. Es wird dabei toll gesungen, getanzt (Ana Cuéllar), geredet und gespielt, all das aufopferungsvoll und nach bester Darstellungskunst. Man erwischt sich dabei zu beobachten, wie sich der Aggregatzustand einer Gesellschaft im Nu ändert, wenn gewisse Energien zugeführt werden. Bieito kann einfach nicht langweilig inszenieren. Es sprudelt. Gegen Dummheit, Nationalismus. Egoismus. Für Freiheit, Menschlichkeit.
Dass Weills geniale Partitur voller starker Nummern und grandioser Chöre wie dem finalen „Alles, was ist, ist Beginnen“ vom stark verkleinerten Nationaltheaterorchester unter Jürgen Goriup auch noch kongenial umgesetzt wird – ein Glücksfall. Gellende Dissonanzen und harte Rhythmen, atemraubende Motorik, beste Unterhaltung, coole Songs, wuselndes Material und feinste Klangmalerei – all das wird hier so geboten, dass man nicht umhinkommt, eine dringliche Warnung auszusprechen: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie ihre Veranlagung zur Suchtgefahr.
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