Mannheim. Also wenn es eine Ausscheidung für den schnellsten Pianisten der Welt gäbe: Jan Lisiecki wäre im Finale. Mit Sicherheit sogar. Bei seinem Mannheimer Konzert mit dem Nationaltheaterorchester unter Holly Hyun Choe spielt der Weltstar quasi nichts Anderes als galaktisch Virtuoses. Prokofjew eins. Prokofjew vier (allein für die linke Hand). Und dann, quasi als Gipfel der Publikumsverblüffung: Henryk Góreckis Prélude op.1, 4 als Zugabe, eine gruselige Achterbahnfahrt mit martialischen sffff-Detonationen am Ende. Ein Minimalstück mit maximaler Schwierigkeit. Und Lisiecki spielt das so rasant, dass die geschätzten 800 Töne der 43 Takte in 44 Sekunden vorbei sind. Puff. Noch nie, so hört man Stimmen danach, hat jemand so schnell Klavier gespielt, was insofern nicht stimmt, als Lisiecki doch schon eine sensationelle Karriere als Chopin-Pianist hinter sich und auch dessen Etüden in unmenschlichen Originaltempi vorgelegt hat.
Jan Lisiecki zeigt in Mannheim: Zirkus gehört zum Virtuosentum dazu
Klar, das alles ist irgendwie Zirkus, und der musikalische Gehalt, die menschliche Tiefe und Wahrheit der Werke überschaubar. Aber auch Zirkus gehört zum Virtuosentum. Mozart, Beethoven, Liszt, Rachmaninow - sie waren alle auch Artisten, die mit nie gekannter Technik beeindrucken wollten. Oder der junge Prokofjew mit seinem Opus 10. Und so sitzt man also im Mozartsaal des Rosengartens und spürt nach den ersten pianistischen Eskapaden Lisieckis die Tränendrüsen. Nicht, weil die Musik so schön wäre. Nein. Weil die Performance so unglaublich ist. Womit nicht gesagt werden soll, dass hier alles perfekt ist.
Immer wieder klaffen zwischen Orchester und Pianist Millisekunden im Metrum. Nicht tragisch. Aber hörbar. Entweder Lisiecki nimmt das Tempo Holly Hyun Choes nicht perfekt auf. Oder umgekehrt. Man muss da aber auch sagen: Profofjew hat sein erstes Klavierkonzert so komponiert, dass über der teils fast industriell futuristisch pumpenden Maschinerie der Virtuosität quasi kein Freiraum eingeräumt wird, kein Zögern, keine Agogik, kein Rubato.
Ein Orkan der Begeisterung durchzieht den Rosengarten
Ach ja, daran erinnern, dass Lisiecki auch kantabel auf dem Steinway singen und poetische Bilder entstehen lassen kann, ist da eigentlich nur im Andante assai von op. 10 möglich. Dort, in den leisen Dolcissimo-Geflechten der fein geflochtenen Sechzehntelketten, entstehen romantisch-impressionistische Pointillismen, die im Zusammenhang der beiden anderen Sätze fast zu schön sind, um wahr zu sein. Das Orchester klingt wundersam kultiviert, Lisiecki leuchtet. Eine fantastische Ruhe-vor-dem-Sturm-Stimmung, die mit der gestopften Solo-Trompete und den Streichern mitunter fast ein bisschen amerikanisch und nach Broadway klingt. Aber nur ganz kurz. Lisiecki ist unzweifelhaft in seinem Auftritt und Spiel. Im Konzert für die linke Hand (op. 53) gibt es auch mehr Tiefe, aber nicht viel mehr. Lisiecki kam, spielte und siegte. Ein Orkan der Begeisterung durchzieht den Rosengarten.
Dabei sind diese virtuosen Kaskaden von weit Tiefschürfenderem umgeben. Und so, wie Holly Hyun Choe Beethovens 3. Leonoren-Ouvertüre mit dem NTO musiziert, dicht, kompakt, im Adagio dramatisch gemalt, fein ziseliert oder im Allegro dann schwungvoll federnd und von der hochbegabten Gast-Konzertmeisterin Charlotte Thiele, Jahrgang 2000, vital angetrieben - das ist die höchste Kategorie sinfonischen Musizierens.
Das trifft auch auf Beethovens Achte zu, selten gespielt vielleicht ja auch der für Beethoven ungewöhnlich positiven Grundierung wegen. Hier gelingt vieles ebenso überzeugend. Das Orchester unter Holly Hyun Choe spielt sehr verlässlich und kultiviert. Zwei Dinge fallen in der Deutung dieses Opus 93 F-Dur dennoch auf. Immer wieder bekommt der Gesamtklang einen leichten Bauch, sprich: Der Klang ist von mittleren Frequenzen etwas dominiert und verliert so an Brillanz. Das manifestiert sich nicht nur im ersten Satz mit seinem Überschwang, sondern etwa auch in den wie Uhren tickenden Begleitfiguren von Oboen, Klarinetten, Fagotten und Hörnern im Allegretto scherzando, wodurch frech hingetupfte Thema etwas zu wenig Luft zum Atmen hat.
Die Musikalische Akademie kann sich erst mal wieder entspannen
Und dann fehlen hin und wieder ein klein wenig die Hierarchien in den Takten, könnte mehr auf die Eins oder entsprechend die Synkopen hin musiziert werden, was nicht nur im Trio dazu führt, dass die Musik selten so richtig ins Tanzen kommt. Vielleicht ist es unter dem Strich viel mehr Entspannung, die hier bisweilen fehlt, eine Coolness, ein Loslassen, das eben dann Spannung auch wieder besser möglich werden lässt.
Die Musikalische Akademie des Nationaltheaters hingegen kann sich erst mal entspannen. Der Saal ist am Montag (fast) voll, und wenn man weiter Konzerte auf diesem Niveau mit diesen Solisten spielt, wird sich das so schnell auch nicht ändern. Die Mixtur aus sensationellem Virtuosentum und ergreifender Tiefe dürfte ebenfalls ein programmatischer Garant für Erfolg sein.
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