Mannheim. Es war die letzte Schauspielpremiere in Haus am Goetheplatz. Am 14. Juli folgt noch ein Kooperationsprojekt in und mit der Kunsthalle Mannheim, dann endet die Spielzeit. Bekanntlich steht die Sanierung an und einige Spielzeiten wird an eigens zu diesem Behufe errichteten Ersatzstätten gespielt werden. Zur letzten Premiere im Schauspielhaus kamen 120 Zuschauer. Nach Aussetzen der Platzbeschränkungen und Maskenpflicht hätten 639 Plätze zur Verfügung gestanden. Ein großes Tuch ist im hinteren Teil des Zuschauerraums gespannt.
Am Ende der 90 Minuten fallen Briefe vom Bühnenhimmel. Es sind keine Beschwerdebriefe und auch keine Fanpost: Für die einst der Coronapause wegen ins Ungewisse verschobene Uraufführung des Stücks „Gott Vater Einzeltäter - Operation Kleist“, die mit Unterstützung der Freunde und Förderer des Nationaltheaters als Auftragsarbeit des damaligen Hausautors Necati Öziri entstanden ist, hatte sich das NTM - wie mehrfach berichtet - etwas einfallen lassen. Regisseurin Sapir Heller und Dramaturgin Lena Wontorra hatten mit dem Produktionsteam „Cecils Briefwechsel - ein Post-Drama“ ersonnen. Postdramatisch, also von den Genre-Zwängen des klassischen Stücke-Schreibens befreit, war es. Losgelöst in Textform und Figurenzuordnung ist Öziris Werk darüber hinaus sowieso.
Männliche Gewaltbereitschaft
Aus Biografie und Figurenpersonal Heinrich von Kleists hat sich der Autor ein Ensemble herausgesucht, das in Verknüpfung mehrerer Stränge Männer- und Heldenbilder untersucht. Im Briefwechsel mit Cecil schrieb und las man am heimischen Küchentisch über männliche Gewaltbereitschaft. Nun kann man diese travestierenden Replik auf Kleist-Werke („Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik“, „Michael Kohlhaas“, „Penthesilea“, „Die Verlobung von Santo Domingo“) auch auf der Bühne von Ursula Gaisböck sehen. Sie stellt eine Kirche mit Mähne und Pferdeschweif dar.
Necati Öziri – der Klassiker-Korrektor
- Necati Öziri, 1988 in Datteln geboren, studierte Germanistik und war in der Spielzeit 20/21 Hausautor am Nationaltheater Mannheim. Sein Stück „Get deutsch or die tryin’ it“ wurde 2018 am Berliner Maxim Gorki Theater in der Regie von Sebastian Nübling uraufgeführt und auch beim Heidelberger Stückemarkt gezeigt.
- Bereits 2019 inszenierte Öziri die Kleist-Korrektur „Die Verlobung in St. Domingo – Ein Widerspruch“, in Zürich, wo im Januar auch „Der Ring des Nibelung – Eine Korrektur“ zur Aufführung kam.
- Die Uraufführung „Gott, Vater, Einzeltäter“ zu Kleists „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik“ am NTM wurde pandemiebedingt in diese Spielzeit verschoben. Die Wartezeit hatte man zwischenzeitlich mit dem Zuschauerbeteiligungsprojekt „Cecils Briefwechsel“ überbrückt.
- Sein Kleist-Abend wird im NTM am 12. Juni und 15. Juli gezeigt. Karten: 0621/16 80 150.
Das Psychogramm von gewaltbereiten Attentätern ist mit László Branko Breiding, Annemarie Brüntjen, Eddie Irle, Ragna Pitoll und Vassilissa Reznikoff besetzt. Reihum spielen sie geschlechtsunabhängig die drei Brüder Gustav, Achilles und Michael, eben in Mischung zu besagten literarischen Vorlagen, Ragna Pitoll bleibt durchgängig ihre Mutter. Eddie Irle spielt auch in Pumps und Juwelen kerlig. Geschlechtervorgaben und toxische Männlichkeit sollen gebrochen werden.
Im Vorwort zur Spielfassung steht geschrieben: „Jede Aufführung dieses Textes verlangt, dass Menschen, die sich als Frauen identifizieren, mindestens zur Hälfte auf der Bühne stehen und die Regieposition bzw. die Hälfte des Regieteams stellen. Wenn das bald eine Selbstverständlichkeit ist, spielen wir endlich alle, wie wir wollen“. Die Forderung oder besser Regieanweisung des Autors ist in dieser Produktion übererfüllt. Die Bühnenaktionen, etwa das Galoppieren mit übergezogene Hottehü-Pferdchen, angedeutetes Sado-Maso-Auspeitschen, das Singen von verschiedenen Popsongs, Rap-Battles oder Chorgesang (Musik: Juri Kannheiser) sowie zahlreiche Tanzeinlagen sorgen in den Reihen sechs und vier für Lachen und Szenenapplaus. Dort saß das Regieteam mit seinen Angehörigen. Die ersten Reihen, traditionell den Vertretern aus Politik und Gesellschaft vorbehalten, blieben nahezu leer.
Im Rahmen der Reihe „Begegnung“ mit den Freunden und Förderern des Nationaltheater Mannheim e. V. erläuterte Autor Necati Öziri im Juli 2021 sein literarisches Verfahren, das er „Korrekturen“ nennt, weil er Autoren wie Schiller oder Kleist, mit denen ihn „eine merkwürdige Hass-Liebe“ verbinde, nicht überschreiben oder überarbeiten, sondern eben „korrigieren“ wolle.
Spaß am Lücken füllen
Verluste, Gewalterfahrungen, männliche Sichtweisen und die Komplexität einer Familiengeschichte bringt Öziri in seinen Stücken ein. Dass Heinrich von Kleist ein „Großmeister im Weglassen, im Manipulieren, im Lücken lassen“ sei, habe er „als Einladung verstanden, diese zu füllen“. Alle Figuren bei Kleist seien gewalttätige Männer.
Öziri fragte sich, wo sie hätten abbiegen können, „damit die Geschichte anders ausgegangen wäre“. Im Schauspielhaus mündet sie in einem Bericht über sich in einem Friedensfest der Volksmusik umarmender Nackedeis, über dem es Seifenblasen und Briefe regnet. Zwölf Texte unterschiedlicher Größe sind in dieser Zeitung zu Autor und Projekt erschienen. 120 Leute im Schauspielhaus applaudierten freudig.
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